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Wir leben im Zeitalter des rasenden Fortschritts. Dabei geht vergessen, dass einige Stützen des Alltags nicht schon immer für uns da waren.
Alice Reinhard — 10/12/23, 06:30 AM
Die Vergangenheit ist ein komischer Ort. Man durfte in Zügen noch rauchen, rotes Fleisch galt als gesund und man hielt es für eine gute Idee, Thermometer mit Quecksilber vollzupumpen. Gleichzeit gibt es Dinge, bei denen wir meinen, sie wären bereits Jesus in die Wiege gelegt worden, aber eigentlich noch relativ junge Erfindungen sind. Fünf eindrückliche Exemplare.
Wie ein Billetschalter, aber im Hosensack: Ticket-App.
Wie Relikte aus vergangenen Zeiten muten die Mehrfahrten-Stempelkarte für den regionalen öffentlichen Verkehr oder das gedruckte und gelochte Zugticket an. Dass sich unsere Gesellschaft einst ausschliesslich auf analoge Reisebelege verlassen hat, erscheint skurril. Es gibt eigentlich nur noch eine Möglichkeit, einen Hauch dieser alten Zeiten zu verspüren: Wenn das Handy keinen Akku für das Öffnen der SBB-App hat und weit und breit kein Ladekabel auffindbar ist.
Nervt fast noch mehr, als die Termine, die man darin einträgt: Doodle.
Im Jahr 2003 hatte ein Schweizer ETH-Absolvent die Idee, ein Online Tool für die Terminplanung zu entwickeln, als er ein Abendessen mit Freund:innen organisieren wollte. 2007 gründete er mit einem Geschäftspartner Doodle. Wenn ich heute eine Umfrage starten würde, wie sehr Doodle nervt, so wette ich auf mindestens eine 9 von 10. Und doch: Den richtigen Zeitpunkt für mehr als drei beteiligte Personen zu finden scheint ohne das Online-Tool fast nicht mehr vorstellbar.
Ohne dieses Buch wäre die Schweiz längst verhungert: Tiptopf.
Im Bücherregal meiner Eltern stand es, am Gymnasium war es Teil des Lehrplans im Fach Hauswirtschaft, in jeder meiner Wohngemeinschaften lag ein Exemplar herum und in den Brockis scheint es schweizweit ebenfalls zum Inventar zu gehören: Das Kochbuch Tiptopf. Das ist wahrscheinlich der Grund, wieso ich mir ein Leben vor diesem Klassiker einfach nicht vorstellen kann. Doch muss es eins gegeben haben, denn der Tiptopf ist ein Produkt der 1980er-Jahre und mittlerweile das meistverkaufte Lehrmittel der Schweiz.
Beim Selfcheckout bitte immer gleich nach vorne laufen: Coop am Luzerner Bahnhof.
Das Leben ist unberechenbar aber eine Konstante bleibt: Andere Geschäfte am beliebten Standort kamen und gingen, aber der Coop am Bahnhof ist zuverlässig überfüllt und hektisch. 2006 öffnete der Detailhändler seine Tore und übertraf mit seinem Umsatz alle Erwartungen – seither ist der Coop am Bahnhof vom eigenen Erfolg überrumpelt und fristet ein konfuses Dasein. Wie die Luzernerinnen und Luzerner davor überlebt haben, ist mir persönlich ein Rätsel. Man munkelt, dass der Anbau von eigenen Lebensmitteln in der grauen Zeit davor über das Schlimmste hinweghalf.
Koh Samui der Abgelegenheit: Schweizer Bergdorf.
Es scheint ein Naturgesetz zu sein, denn wie Ebbe und Flut stauen sich im Rhythmus der Schulferien und Feiertage die Autos am Gotthard. Eines der Ziele der Reisenden in Richtung Süden ist die vielzitierte Sonnenstube der Schweiz, das Tessin. Ein Glacé an der Seepromenade in Locarno als innigster Wunsch der Deutschschweizer:innen? Das war nicht schon immer so, denn der Tourismus im Tessin entwickelte sich erst allmählich seit 1882, als der Gotthard-Eisenbahntunnel in Betrieb genommen wurde. Davor galt das Tessin als arme und schlecht entwickelte Region der Schweiz – heute prägen überfüllte Campingplätze und pedalofahrende Sommergäste unser Bild vom Kanton.