Meine persönliche Hölle
Kultz-Redaktionsleiter Martin Erdmann fühlt sich oft verstossen, weil er keinen Kaffee trinkt. Deshalb hat er eine Theorie entworfen, um seinen Verzicht moralisch zu untermauern.
Martin Erdmann — 11/08/22, 08:46 AM
Saat des Bösen: Kaffeebohnen (Fotos: Unsplash)
Journalismus ist ein Berufsfeld, in dem man unweigerlich mit Menschen zu tun hat. Als wäre das nicht schon schlimm genug, können unliebsame zwischenmenschliche Kontakte auch noch auf perfide Tageszeiten fallen. Zum Beispiel auf Vormittage. Weil es das Arbeitsrecht bis anhin versäumt hat, Vormittage als gesetzlich gesicherte Schutzzonen für gepflegtes Ausschlafen zu definieren, kann es vorkommen, dass ich aus Gründen der Lohnarbeit irgendwelche Menschen morgens zum Interview zu treffen habe.
Es kommt noch schlimmer. Diese Treffen finden in der Regel in Cafés statt. Denn irgendwie hat es sich in der Geschichte der modernen Zivilisation eingebürgert, dass gewichtige Gespräche zu perfiden Tageszeiten wie dem Vormittag nur im Beisein von Kaffee möglich sind. Aber ich trinke keinen Kaffee und das setzt mich gleich mehreren Problemen aus. Das Schlimmste: Die Verachtung in den Augen meines Gegenübers, wenn ich bei der Bestellung mit allen gesellschaftlichen Konventionen breche und statt Kaffee etwas anderes bestelle.
Kein adäquates Morgengetränk: Bier.
An diese Situation knüpft sogleich das zweite Problem an. Weil ich keinen Kaffee trinke, beschleicht mich auch nie das Verlangen, zu perfiden Zeiten wie dem Vormittag gastronomische Einrichtungen aufzusuchen. Deshalb kenne ich mich in der Welt der morgendlichen Getränke überhaupt nicht aus. Aus Erfahrungswerten von Nachmittagen oder gar Abenden weiss ich, dass zum Beispiel Bier ein verdienstvolles Getränk ist. Doch aus Gründen der Jobsicherung kann ich mir nicht bereits um 10 Uhr morgens Stangen reinorgeln, während das Gegenüber mein koffeinfreies Ich mit kräftigsten Blicken der Geringschätzung traktiert.
Wegen meines kaffeelosen Lebensstils bin ich also gesellschaftlicher Stigmatisierung ausgesetzt. Wieso füge ich mich nicht einfach dem öffentlichen Druck und trinke Kaffee? Vielleicht, weil mich Koffein in eine nervöse Grundstimmung versetzt. Viel wahrscheinlicher ist jedoch folgende Theorie, die sich wesentlich besser mit meinem Selbstbild vereinbaren lässt: Durch meinen selbstlosen Koffeinverzicht leiste ich einen noblen Beitrag an eine bessere Welt.
Vereinfacht gesagt: Wer Kaffee trinkt, hat Elon Musk gross gemacht.
Das mag zunächst etwas vermessen klingen, ist aber bei genauerer Betrachtung vollumfänglich schlüssig. Schliesslich wird Kaffee primär nur deswegen getrunken, um morgens in die Gänge zu kommen. Es wird also hart verdientes Eigenkapital in etwas investiert, um für die Arbeit fit zu sein, mit der man Eigenkapital anhäuft. Dadurch wird das diabolische Hamsterrad des Turbokapitalismus unaufhörlich am Drehen gehalten.
Vereinfacht gesagt: Wer Kaffee trinkt, hat Elon Musk gross gemacht und trägt Mitschuld an der Wasserprivatisierung durch Nestlé. Meine Kaffeeabstinenz ist also als heroisches Aufbäumen gegen die menschenfeindliche Leistungsgesellschaft zu verstehen.
Flüssige Kette des Kapitalismus: Kaffee.
Natürlich sind perfide Tageszeiten wie der Vormittag völlig ungeeignet, um mein Gegenüber mit solchen unumstösslichen Wahrheiten zu konfrontieren. Aber wenn die verachtenden Blicke sich zu fest in das Seelenwohl graben, mache ich es vielleicht doch einmal. Aber erst nach dem zweiten Bier.
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