Meine persönliche Hölle
Kultz-Redaktionsleiter Martin Erdmann sieht sich manchmal dazu gezwungen, E-Mails zu verschicken. Wieso ihn das immer wieder vor Probleme stellt.
Martin Erdmann — 09/27/22, 09:48 AM
Wie Whatsapp-Nachrichten, einfach mit allerlei Höflichkeitsfloskeln: E-Mails. (Fotos: Unsplash)
Manche Menschen scheinen es für unerlässlich zu halten, mir E-Mails zu schicken. Als wäre das nicht schon schlimm genug, gehen sie von der egozentrischen Erwartungshaltung aus, dass ich ihnen zu antworten habe. Der sittliche Richtwert der digitalen Welt sieht eine Rückmeldung innerhalb von 24 Stunden vor. E-Mails bedeuten also unerwünschten Mehraufwand, der unter immensem Zeitdruck abgearbeitet werden muss.
Innerhalb dieser ohnehin schon strapaziösen Rahmenbedingungen zeigt die E-Mail nun ihre ganze Niedertracht. Denn sie will nicht bloss beantwortet werden, sie fordert eine Antwort nach den höchsten Anstandsregeln der aufgeklärten Gesellschaft. Eine E-Mail zu schreiben ist etwa so, wie auf dem Kreuzfahrtschiff am Tisch des Kapitäns zu dinieren. Hier regiert Knigges eiserner Wille. Jegliche Handlung ist an die eisernen Ketten zwischenmenschlicher Gepflogenheiten geknüpft.
Ein Programm, um die Menschheit zu knechten: Gmail.
Ich will mich damit gewiss nicht für die Verrohung der Gesellschaft aussprechen. Doch die Höflichkeit in E-Mails wirkt im Vergleich zu anderen Kommunikationskanälen der modernen Welt etwas aufgesetzt. Zur Veranschaulichung soll dieses fiktive Beispiel dienen: Um die Zwänge meiner Lohnarbeit reibungslos fortsetzen zu können, brauche ich von Bürokollegin Judith das Dokument «Zahlen und Fakten zu Nilpferden während dem Uganda-Tansania-Krieg». Weil wir morgens jeweils aus dem Homeoffice arbeiten, ist eine digitale Verständigung nötig.
Ich könnte mich also für die Variante Whatsapp entscheiden. Sie befreit mich von jeglichen Konventionen der Höflichkeit, da sich die Menschheit hier auf eher kurze und sachgebundene Nachrichten geeinigt hat. In diesem konkreten Beispiel:
Kannst du mir schnell die Nilpferd-Liste schicken (Uganda-Tansania-Krieg)?
Wähle ich nun aber die Variante E-Mail, wird es deutlich komplizierter. Wenn ich obige Nachricht als Mail verschickt hätte, würde ich wohl bald eine Vorladung aus der HR-Abteilung erhalten, um meine menschlichen Merkmale unter Beweis zu stellen. Das allgemeine Arbeitsethos verlangt ein weitaus grösseres Mass an vornehmen Feinheiten.
Eine moralisch unverfängliche E-Mail klingt so, als hätte man sie bei flackerndem Licht eines Kerzenstummels im Turmzimmer einer maroden Burg geschrieben, während vor dem Bogenfenster kalter Regen auf die ärmlichen Dörfer niederprasselt und der hungernden Bevölkerung den Keuchhusten in die Lungen treibt. In diesem konkreten Beispiel:
Gnädigste Judith
Ich hoffe, diese Nachricht erreicht dich bei bester Gesundheit. Es bricht mir das Herz, es dir sagen zu müssen, aber ich befinde mich in höchster Not. Die Zukunft meines täglich Brotes hängt von gesammelten Informationen über die holde Gattung der Nilpferde während des Uganda-Tansania-Krieges ab. Wie mich dünkt, bis du in Besitz besagter Unterlagen. Wenn du über die Güte verfügen würdest, sie mit mir zu teilen, wäre dir meine innige Dankbarkeit bis ans Ende aller Zeiten sicher. Zu Hülf!
In tiefster Hoffnung,
Martin
Hat mit dem eigentlichen Thema dieses Textes nichts zu tun: Nilpferd.
Damit ist die Angelegenheit aber längst nicht erledigt. Denn in Judiths Antwort wird nun die Frage aufgeworfen werden, ob ich nur die Zahlen für das gemeine Flussnilpferd benötige, oder auch jene für das Zwergflusspferd. Also muss ich zurück ins Turmzimmer, um ihr zu erörtern, dass ich alle Zahlen sämtlicher Nilpferdgattungen brauche. Judith wird daraufhin wissen wollen, ob ich denn auch Interesse an Statistiken zu den bereits ausgestorbenen madagassischen Formen hätte.
Spätestens hier erreicht der Mailwechsel eine sittliche Grauzone. Ab wie vielen Antworten darf man auch in Mails auf die kargen Anstandsregeln von Whatsapp wechseln, ohne von der HR-Abteilung jegliche Berechtigung zum Menschsein abgesprochen zu bekommen?
Darüber müsste man einmal in Ruhe nachdenken. Aber das geht nicht, weil man eine E-Mail schliesslich innerhalb von 24 Stunden zu beantworten hat. Und deshalb ist sie das mühsamste Kommunikationsmittel aller Zeiten.
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