Meine persönliche Hölle
An dieser Stelle berichten Kultz-Schreibende über ihre persönliche Hölle. Heinrich Weingartner ist Heide aus Leidenschaft. Deshalb: Ab in die Hofkirche, an einem Feiertag.
Heinrich Weingartner — 05/31/22, 08:30 AM
Der Eingang zu Heinrich Weingartners persönlicher Hölle: Eine Kirche.
Bereits im Kindesalter wird einem eingetrichtert, dass andere Glaubensrichtungen respektiert werden müssen. Dahinter kann ich nicht stehen. Ich kann keinen Respekt aufbringen für jemanden, der an einen erfundenen Mann im Himmel glaubt und das auch dann noch tut, wenn dessen irdischen Vertreter Minderjährigen an den Penis fassen. Gott gibt es nicht, Ende der Märchenstunde. Mehr Denkzeit möchte ich für diesen Schwachsinn, die Lüge aller Lügen, nicht aufbringen. Aber ich muss, der Arbeit zuliebe.
Religion liegt im Sterben: Neun von zehn Menschen, die ich auf meinem Weg zur Hofkirche in der mittelmässigen Nachmittagssonne den Quai entlang laufen sehe, haben vermutlich keine Ahnung, wie der heutige Feiertag heisst. Ihnen genügt das Wissen, dass Feiertag ist und sie frei haben. Ich muss auch dreimal «Feiertag Heute Schweiz» googeln und vergesse auch dreimal wieder, wie er heisst. Bei der Lektüre der Bedeutung von «Christi Himmelfahrt» auf Kathpedia schlafen mir beide Hirnhälften ein.
Ich bin konfessionslos aufgewachsen. Als ich genug alt war, um sinnvolle Fragen zu stellen, liessen mich meine Eltern selbst entscheiden, ob ich an Gott glauben will oder nicht. Dafür bin ich ihnen unendlich dankbar. Alle anderen um mich herum mussten in den Religionsunterricht, in die Kirche, sie mussten ministrieren, in die Erstkommunion und haben das gesamte Lügenprogramm von A bis Z in ihre damals noch formbaren Hirnrinden gedrückt bekommen. Mit vier findet man heraus, dass es den Osterhasen nicht gibt, mit sechs muss der Weihnachtsmann dran glauben, mit zwölf der «schwarze Mann» – wieso nicht auch «Gott»?
Ich stehe vor dem Tor zu meiner persönlichen Hölle. Die gotischen Fenster der beiden Türme mustern mich erwartungsvoll. Zwischen mir und dem pechschwarzen Eingang der Hofkirche befinden sich noch rund 40 Treppenstufen. Nach jeder einzelnen klopft mein Herz etwas schneller, dieses Gefühl kenne ich von bevorstehenden Maturaprüfungen oder Vorträgen. Ich glaube, ich habe eine Kirchenallergie. Die goldene Uhr auf der Stirne des Götzentempels zeigt 17.11 Uhr.
Star-Wars-Fans vs. Trekkies erkennen wenigstens, dass sie sich über Fiktionen streiten.
Die katholische Kirche und beinahe jede andere Religion bauen auf Minderwertigkeitskomplexe. Sie besagen: Ich als irdisches, fehlbares Geschöpf genüge nicht. Deshalb projizieren wir erstrebbare Eigenschaften wie Geduldsamkeit, Güte und Gnade auf ein unfehlbares, überirdisches Wesen. Und weil sich die geistlichen Kartoffelsäcke dieser Welt nicht einigen können, ob dieses erfundene Wesen Mohammed, Jesus oder Spaghettimonster heisst, hauen sie sich gegenseitig die Birnen ein. Star-Wars-Fans vs. Trekkies erkennen wenigstens, dass sie sich über Fiktionen streiten.
Im Innern der Hofkirche wird der Minderwertigkeitskomplex üppig kompensiert: Goldener Pomp, eindrucksvolle Verzierungen, Kirchenkitsch. Ich möchte «Lügenmesse!» schreien, dass es bis in den Vatikan hallt, tue es aber nicht. Ich laufe den Mittelgang nach vorne. Wenig Leute hier, ein paar graue Hinterköpfe und ein paar flüsternde Touris. Als ich mich setze, ächzt die ganze Sitzbank. Ich blicke sorgenvoll um mich, aber niemand dreht den Kopf und ruft «Pssst». Im Kino wird man mit einer Handfeuerwaffe bedroht, wenn ein Popcorn auf den Boden fällt.
Vergoldeter Kitsch und uralte Sitzbänke: Die Hölle aus dem Innern.
In der Hofkirche sitzen nur noch eine ältere Dame links vom Mittelgang und ich auf der rechten Seite. Ich blicke zu ihr herüber. Jetzt sehe ich, dass sie etwas in ihren Händen hält. Ich kneife meine Augen zusammen: Es ist eine kleine, braune Stofftiermaus. Die Dame hat ihren Kopf gesenkt, klammert die Maus mit der rechten Hand fest und streichelt sie mit der linken Hand. Und dann passiert etwas Ungewöhnliches: Mein Hals verknotet sich und ich stehe den Tränen nahe. Ich spüre den Trost, den sie sucht.
Wer bin ich, der anderen Menschen vorschreibt, an was sie glauben dürfen? Ich erinnere mich plötzlich an eine kleine Broschüre, die wir in der Primarschule durchblätterten. Titel: «Toleranz». Die ältere Dame neben mir hat vielleicht niemanden mehr und weiss nicht, wo sie sonst Trost suchen soll in einer Welt, in der man alle fünf Minuten ein Update auf WhatsApp installieren muss. Menschen und ihre fest installierten Glaubensbilder lassen sich nicht so schnell updaten, dafür brauchen wir vielleicht nochmals 2000 Jahre. Amen.
Du willst nicht in der Hölle landen?
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Dieser Artikel wurde im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.