Meine persönliche Hölle
Die Sonne ist nichts anderes als ein eklatanter Mangel an Schatten. Es ist höchste Eisenbahn, mehr Zeit drinnen zu verbringen.
Jonas Wydler — 10/11/22, 11:52 AM
Der Sommer 2022 war selbst für die Anhängerschaft hoher Temperaturen zu viel des Guten. (Foto: pixabay)
Ich bin kürzlich auf einen Montagewagen einer Storen-Firma getroffen. «Wir stellen alles in den Schatten», verspricht ihr Solgan. Danke! Denn genau darum geht’s doch: Die Welt braucht dringend mehr Schatten. Es kann kein Zufall sein: Die Augen des Panthers, der auf dem Logo aus der Dunkelheit durch die Lamellen blinzelt, erschienen mir wie ein Zeichen höherer Gewalt: Wir sind viele – und zusammen können wir den Kampf für mehr Schatten gewinnen!
Aber alles der Reihe nach.
Wenn die Sonne am höchsten steht. Wenn keine Wolke ihre Sicht trübt. Wenn Sie am Mittag senkrecht und ungehindert ihre Strahlen zur hochsommerlich erhitzen Erde schickt. Dann ist für mich Zeit, nach drinnen zu gehen.
Wie oft wird sie als Quell allen Lebens, der guten Laune und des Müssiggangs besungen. Als lockendes, wärmendes und spriessendes Versprechen. Dabei ist es eine gnadenlose Glut, die ihre UV-verseuchten Strahlen auf uns richtet, mit dem Ziel, uns zu röten und auszutrocknen.
Bei näherer Betrachtung vielleicht doch nicht so geil: Sonne. (Foto: Unsplash)
Es ist nicht nur die unerträgliche Hitze, das Brennen und Flirren, das die Sonne unerträglich macht. Es ist das Ausbleiben von Nuancen, wenn man sich einmal in ihren Fängen befindet. Sie findet ihre unerträglichste Entsprechung in den Tropen, wo sie immer Vollgas, immer senkrecht und unterstützt durch unermessliche Feuchte brennt.
Das langweiligste und deprimierendste Wetter ist nicht der Dauerregen. Auch nicht der Hochnebel. Es ist die nicht mehr endende Schönwetterphase. Der Sommer 2022 war deshalb nur noch schwer zu ertragen – nicht nur für die Gletscher, auch für mich. 2022 ist das Jahr, als es sogar den hartnäckigsten Sommer-Beschwörern zu viel wurde. «Endless summer» gehört im Gegensatz zur Storen-Werbung auf den Propaganda-Schrotthaufen.
Das Leben wächst mit seinen Schattierungen, Überraschungen und seinem Ungefähren. Wenn die Nacht im Mondschimmer nicht endet, der Morgen sich erst scheu anbahnt, das Leben langsam erwacht oder die Sonne am Abend alles in Gold taucht – dann lädt die Welt zu Entdeckungen ein.
Grenzwächter des angenehmen Lebens: Storen. (Foto: pixhere)
Die penetrante Sonne hingegen lähmt, erstickt und blendet. Es bleibt nur die Flucht an den Schatten. Es ist wie mit den Jahreszeiten: Die Wechsel, das Dazwischen und die Veränderung machen den Reiz aus. Und nicht, wenn die Sonne alles plattwalzt.
Im Süden haben sie einen gesunden Umgang mit der Sonnenglut gefunden: Raus geht man nur in den Randstunden – also morgens oder abends. Den Tag verbringt man aus guten Gründen im, hoffentlich klimatisierten, Drinnen.
Schweizer:innen haben damit noch ihre liebe Mühe: Wenn die Sonne vom Mittagshimmel brennt, verbringen sie die Zeit vorzugsweise in den Bergen, der Badi oder am Grill. Städte werden immer noch so gebaut, als wäre das Flanieren in der Gluthitze etwas Erstrebenswertes.
Die Sonne kann derweil das einzig sinnvolle tun: Energie produzieren.
Wir brauchen mehr Bäume, durchgehende Schatten-Korridore und weniger Beton. Und dringend andere Lebensmodelle, die das Leben in den späten Abend und in die Nacht hinein verlängern, den frühen Morgen zelebrieren und die Siesta erlauben.
Es wäre ein erster Schritt, wenn wir unsere unerträgliche Anbetung der Sonne überdenken würden. Dann könnten wir endlich damit anfangen, diese aus unserem Leben auszusperren – mit Hut, Sonnenbrille und Sunblocker. Und meinetwegen Storen. Und die Sonne kann derweil das einzig sinnvolle tun: Energie produzieren.
Die Sonne ist nicht nur die Feindin der Eisbären und Gletscher, sondern von uns allen. Sie ist ein eklatanter Mangel an Schatten.
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