Meine persönliche Hölle
Wir haben unsere Schreibenden in ihre persönliche Hölle geschickt. Zum Auftakt kommt natürlich nur ein Lokal in Frage: Der Jodlerwirt. Nikola Gvozdic hat sich an die Pforten des Grauens begeben.
Nikola Gvozdic — 05/17/22, 06:42 AM
Unser Autor rät von einem Besuch im Jodlerwirt eher ab. (Fotos: Nikola Gvozdic)
So ein Wahnsinn. Warum schicke ich mich in die Hölle? Alles in mir sträubt sich dagegen. Ich will dort überhaupt nicht hin. Wie kann das eine gute Idee sein? Vergeblich versuche ich den Moment meiner unausweichlichen Ankunft noch etwas länger hinaus zu zögern. Aber wie es unausweichliche Dinge an sich haben, können sie nicht verhindert werden. So stehe ich vor den Pforten eines schwarzen Loches der Luzerner Kultur. Da ist er, der Jodlerwirt. Lasset alle Hoffnung fahren.
Ich kann mit Schlager nichts anfangen. Insgeheim glaube ich, dass eigentlich niemand wirklich etwas mit Schlager anfangen kann. Meine Theorie ist, dass Schlagermusik in Wahrheit nur ironisch gehört wird. Warum sollte man sich das dann überhaupt antun?
Ohne Bier ist der Aufenthalt kaum zu überstehen.
«Im Eintritt ist ein Getränk inbegriffen», sagt der glatzköpfige Türsteher und fährt fort: «Ein Bier oder ein Cü- » Ich unterbreche ihn: «Es wird ein Bier» und stosse die Tür auf. Sofort prügelt Schlagermusik auf mein Trommelfell und ich verliere unter stechenden Blicken kurz die Orientierung. Haftet der Gestank des Aussenseiters an mir? Die Reling der Bar bietet rettenden Halt. Unter dem Schutz einer verkrüppelten Holzkuh und der kühlen Umarmung zweier Biere vergeht der erste Schock langsam wieder.
Es ist knapp zehn Uhr und die Schlagerbeiz ist voll. Von aussen gab es dafür überhaupt keine Hinweise. Auf der Strasse war es still. Ein wahres, schwarzes Loch. In diesem rustikal-holzigen Raum, der wohl den klassischen Hüttenzauber-Charme versprühen soll, drängt sich ein gemischtes Publikum von Wand zu Bar über die Tanzfläche und wieder zur Bar zurück. Jung, älter, alt, jedes Geschlecht, Riesen und Zwerge; diese kulturelle Enklave zieht eine überraschende Vielfalt an. Ein wenig schäme ich mich über meine ignorante Erwartungshaltung, was die Menschen hier drinnen angeht. Es sind nicht nur Hinterwäldler, alte Lustmolche und verzweifelte ältere Frauen. Auch, aber nicht nur. Wie könnte eine Hölle denn anders sein, als gefüllt mit Menschen aller Art? Ein weiteres Bier vermag meine Scham zu lindern.
Die Dekoration im Jodlerwirt befindet sich Irgendwo zwischen unheimlich und künstlerisch wertvoll.
Ich lasse meinen Blick schweifen und bemerke etwas Ungewöhnliches. Überdurchschnittlich viele Augen treffen sich. Viele mit neugierigem Ausdruck, aber deutlich mehr mit Wollust. Ist das der Schlüssel hier? Plötzlich erinnere ich mich an einen Typen, der regelmässig in den Jodlerwirt ging, um sich abschleppen zu lassen. Die Pointe seiner Geschichten war immer, dass es unmöglich war, dort zu scheitern.
Und dann sehe ich es überall. Die Balz zu Schlager. Vor mir tanzt ein Paar in inniger Umarmung und sie haucht ihm sinnlich «müeh mit de chüeh» ins Ohr. Es wird wortlos getanzt, bis der erlösende Refrain kommt, den sich alle enthusiastisch zusingen können. Ein Moment der Berührung. Ist es das? Eine erleichterte Verbindung? Trotz oder gerade wegen der Musik?
Refrains werden gegrölt, die Lieder verschmelzen zu einem ungeheuerlichen Schlager-Moloch.
In der Toilette waschen sich Männer in stiller Panik den Schweiss von den Armen, richten ihre Frisuren, und entscheiden sich dann doch dazu ein Bündel Papier nass zu machen um sich unter den Achseln und mitunter schnell den ganzen Oberkörper abzuwischen. Noch ist der Abend nicht gelaufen.
Um mich herum herrscht Chaos. Eine Fratze verschwindet zwischen den Tanzenden und taucht anderswo plötzlich wieder auf, es wird diskutiert, welche Getränke für Männer sind, und welche nur die Weiber mögen, Refrains werden gegrölt, die Lieder verschmelzen zu einem ungeheuerlichen Schlager-Moloch, das Jodlerwirt-Maskottchen grinst wie ein Satyr von den Wänden. «Es ist so sorglos hier», sagt mir jemand und ich verstehe plötzlich, warum es diesen Ort gibt. Ein Versprechen der Sorglosigkeit. Genau damit würde auch der Teufel locken.
Der ganz normale Wahnsinn.
Irgendwann löse ich mich aus der Trance und stolpere aus dem Jodlerwirt raus, vorbei an einem Schlafenden , der auf einem Tisch hockt. Hinter mir schliesst sich die Pforte. Ich atme die kühle Nachtluft ein. Es ist still. Sorglosigkeit. Ist das nicht das Versprechen vom Ausgehen generell? Ohne mich umzudrehen, lasse ich dieses schwarze Loch zurück. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt nichts gelernt habe.
Du willst nicht in der Hölle landen?
Dieser Artikel wurde im Rahmen im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.