Meine persönliche Hölle
Unser Autor begibt sich auf der Suche nach seiner persönlichen Hölle in den berüchtigten Partytempel beim Bahnhof. Ein Report zwischen Reggaeton und Vodkashots.
Mario Reinhard — 09/12/22, 07:03 PM
Ohne Musik nur halb so eindrücklich: Das Roadhouse von aussen. (Bilder: Mario Reinhard)
Es ist Samstagabend, Roadhouse-Primetime und somit der ideale Zeitpunkt für meine Mission: Ich will den «coolen Underground, wo Flair die originellsten Drinks der Stadt trifft», (roadhouse.ch, 2022) kennenlernen.
Den Bahnhof meide ich am Wochenende eigentlich, besonders in den Abendstunden. Es ist laut, dreckig und durchkommerzialisiert. Heute begleitet mich die Angst, nicht genügend Recherchematerial sammeln zu können und immer wieder dorthin zurück zu müssen. Die ideale Motivation für einen Grenzgänger wie mich.
Ich nähere mich den Pforten zum Abgrund vom Bahnhof her, wie das die meisten Angereisten auch tun. Am Fussgängerstreifen versüsst mir bereits die Musik, die aus dem Schlund nach oben dringt, die Wartezeit und ich geniesse die Aussicht auf den illustren Aussenbereich.
Fast wie in Mexiko
Zielstrebig schreite ich auf den Türsteher zu. Als er mir mit einem resoluten Lächeln zu verstehen gibt, dass mein Platz drinnen ist, nicke ich ihm komplizenhaft zu. Ich habe Glück, die Hölle feiert ihren 18. Geburtstag. Für zwei grosse Biere bezahle ich zum Start auch direkt 18 Franken.
Das Motto der Geburtstagsfeier: «Mexican Fiesta». Die Räume sind mit Sombreros und Schnäuzen dekoriert. Grün glänzende Lametta-Girlanden flattern verspielt im Abluftstrom der Kühlschränke und verbreiten liebevoll den Fiesta-Spirit. Aufblasbare Palmen und Ananas-Luftballons runden das eindrückliche Dekor ab.
Der Effekt trifft ins Schwarze und ich vergesse kurz, dass ich in Luzern bin und nicht in Oaxaca mit einem Poncho bekleidet meinen Revolver in den Himmel abfeure und dazu Tequila trinke.
Fastfood und Trojka-Shots
Ich gehe nochmals vor die Tür, um mich auf den Abend einzustimmen. Die Roadhouse-Terrasse ist der Vorhof zur Hölle und in diesem lässt sich gut Passanten beobachten. Das Trottoir ist eine Art Laufsteg, wo man sich im besten Licht präsentiert und zusammen Leckereien aus dem McDonalds geniesst. Von der Strasse her höre ich immer wieder Geschrei und ich frage mich, ob in diesem Stadtteil viele Aufstände stattfinden.
Die Musik stachelt mich an, ich würde gern jemanden in die Wade beissen.
Im Innern singen die Leute unverblümt zum catchy PNAU-Remix von Cold Heart mit. «And I think it’s gonna be a long, long time». I can relate to that. Zwischendurch schallt auch Britney Spears durchs Haus und Erinnerungen an meine Jugend kommen hoch. Die Musik stachelt mich an, ich würde gern jemanden in die Wade beissen.
Besticht durch zeitgemäss elegantes Design: die Spezialitäten-Karte.
Auf der Terrasse zieht es und es ist Zeit, das Gemüt mit einem scharfen Roadi-Shötli aufzuheizen. Ich geniesse den mit Tabasco-Tequila versetzten Trojka-Orange-Shot mit geschlossenen Augen und es erscheinen Bilder der herrlichen Bougainvilleen Mexico Citys mit ihren violetten Blüten vor meinem inneren Auge. Die immersive Experience geht tief. Authentizität pur. Serviert wird die Überseeware von zuvorkommenden, freundlichen und äusserst charmanten Agent*innen des Teufels und ich bin hooked.
Kollektives Selbstwert-Boosting
Nach dem Prolog im Aussenbereich begebe ich mich durch den Eingangsbereich hinunter in die klammen Katakomben der Unterwelt. Auf der Toilette sammle ich mich und der DJ wechselt zu Reggaeton. Bereit, dem Übel auf den Grund zu gehen, tänzle ich zu «Rampapapam» durch den Club. Bereits auf der ersten Treppe versperren mir junge Personen – bestimmt vom Land – den Weg. Eine Zumutung. Der Abstieg gelingt dennoch und die Reise geht weiter.
Es wird versucht, sich gegenseitig abzuchecken, ohne dabei ertappt zu werden.
Tausend Ballone schweben durch die Eingeweide dieses Labyrinths und verzücken die frohgesinnten Gemüter. Auf einer Tanzfläche irgendwo unter dem McDonalds richte ich mich ein und beobachte die anderen Gäste. Es wird ein wenig getanzt, vor allen Dingen wird in kleinen Gruppen gestanden und versucht, sich gegenseitig abzuchecken, ohne dabei ertappt zu werden. Kollektives Selbstwert-Boosting. Genial.
Der Toilettengang als Teambuilding
Als ich genug Energie getankt habe, erkunde ich den Keller weiter. Luzifers Gefilde sind in der Tat weitläufig. Ich verweile schliesslich im gemütlichen Raucherbereich unter der Treppe. Überzeugend an der Hölle finde ich die grosse Bardichte. Nie muss ich Durst leiden, die Aschenbecher bleiben selten voll und die leeren Gläser verschwinden allzu schnell im organisierten Wirrwarr des Betriebs. Das Roadhouse melkt die Geldbeutel der Klientel zuvorkommend und unauffällig. Ich fühle mich von allerhand Personal aller Sparten umworben. Hier lässt es sich erstaunlich gut leben. Wenn man Geld hat.
Was fehlt, ist der Sinn, ein Ziel, Action. Es passiert so nichts. Zwischendurch würde ich deshalb gern in eine Ecke oder an eine Bar urinieren, doch ich traue mich nicht. Stattdessen suche ich erneut das WC auf. Harndrang motiviert und gemeinsame Ideen und Bedürfnisse schweissen zusammen, stiften Identität und Sinn. Die idealen Voraussetzungen, um Freunde zu finden. Ich versuche, mit Peers ins Gespräch zu kommen, indem ich das Eis gekonnt mit Komplimenten zu fehlenden Hemdkragen breche. Ich scheitere kläglich.
Landei undercover
Zurück in der Niederhölle sinniere ich über die Frage, warum man dieses Lokal aus freien Stücken und regelmässig aufsucht. Dazu befrage ich mein jüngeres Ich.
Schon als junger Obwaldner Freigeist wollte ich meinen Horizont erweitern. Ökonomie zu studieren schien mir der ideale Weg zu sein. Weil ich das Bahnhofsgebäude zum Studieren nie verlassen musste, war der Gang über die Strasse der naheliegendste Weg, den Horizont zusätzlich zum Studium zu erweitern. Push your limits, hiess meine Devise schon damals.
Im Roadhouse musste ich keine Angst haben, von weltoffenen Einheimischen als Landei erkannt und aus der Stadt gejagt zu werden. Das hat mir gefallen. Quasi inkognito in der Stadt zu sein. Und es gab einen Pitcher Bier für 20 Franken. Das war noch vor den Zeiten des verrückten Konsumteufels. Heute gehöre ich wohl nicht mehr zur Zielgruppe. Was für ein Jammer.
Begleitung hat genug
Eine mir bis anhin unbekannte Variante des Ayy-Macarena-Songs reisst mich jäh aus meiner Tagträumerei und meine journalistische Objektivität kehrt zurück. Kaum begreife ich die Musik, schallt bereits das nächste Stück durch die vernebelten Hallen. Die Übergänge sind nahtlos, die Selektion überzeugt. Geschickt werden Hits wie der Magician-Remix von «I Follow Rivers» eingestreut und die Herzen schlagen 19 Sekunden höher.
«Eine kulturgeschichtliche Perversion, die überraschend friedlich hingenommen wird», höre ich meine Abendbegleitung schimpfen, bevor sie Richtung Downtown abmarschiert. Ich erlebe die Hölle anders und sehe keinen Anlass, den Rückzug anzutreten. «This Is The Rhythm of the Night». Als endlich der Refrain meines Lieblingslieds eingespielt wird, singe auch ich laut mit. «All I need is your love tonight». Die Freude ist gar so gross, dass ich noch ein Bier bestelle.
Vermitteln Mexico-Feeling: Ballon-Trikolore.
Als meine Debitkarte den Dienst versagt, spuckt mich der schweflige Schlund der Konsumhölle jäh aus. Das Roadhaus ist teuer und kein «Boom Pump It Up» mag mich über den Umstand hinwegtrösten, dass ich mir eben diesen illustren Abend mit schweisstreibender Lohnarbeit erwirtschaftet habe.
Erst beim Verlassen des schwefligen Abgrunds wird mir meine Privilegiertheit bewusst. Vor dem Eingang des Clubs hat sich eine 15 Meter lange Schlange gebildet. Ich passiere die Wartenden und ein erhabenes Gefühl beschleicht mich. Ich habe gesehen, was es zu sehen gibt, ich habe vom Nektar der «originellsten Drinks Luzerns» gekostet und mich im «underground Flair» gewälzt.
Es ist Zeit. Ein letztes Mal sauge ich das Ambiente auf. Ein letztes «Alors on dance» begleitet mich um die Ecke und ich trete durchs Vögeligärtli die Heimreise an.
Das grösste Agglo-Verbrechen Luzerns |