Meine persönliche Hölle
Kultz-Redaktionsleiter und Gölä-Beobachter Martin Erdmann war am Wochenende in Zürich am Büetzer-Buebe-Konzert. Ein bekümmernder Lagebericht zur Befindlichkeit des Landes.
Martin Erdmann — 08/24/22, 10:56 AM
46'000 verlorene Seelen im Zürcher Letzigrund Stadion.
Der faulige Atem von nachmittäglichem Bierdurst hängt in der Luft. Er kriecht aus den speckigen Mündern wanderbeschuhter Menschen, die mindestens viermal umsteigen mussten, bis sie vom öffentlichen Verkehr vor dem Stadion Letzigrund in Zürich ausgespuckt wurden. Die Sonne scheint nicht. Sie wird nie wieder scheinen. Das ist das Ende der Welt, wie wir sie kannten.
Ich fröstele. Der Leichnam des guten Geschmacks, der tief unter dem Letzigrund-Rasen verscharrt wurde, verströmt unerbittliche Kälte. Die Menschen um mich herum scheinen sie nicht zu spüren. Pullover und Regenjacken aus dem Landi werden fest verknotet um Bäuche gebunden, in denen die Inhalte leerer Feldschlösschen- und Desperado-Dosen herumschwappen.
Um die Zeit bis zum Einlass zu überbrücken, wird Schnupftabak herumgereicht. Stiernackige Burschen saugen an den stärksten Zigaretten, die der Tabakhandel im Angebot hat. Stiernackige Mädchen tun es ihnen gleich. In fünf Stunden werden im Stadioninnern die Büetzer Bueben ein Buffet der musikalischen Verwesung anrichten. Der heilige Gral des Kulturpessimismus.
Viagra und Durchfall
Die Erde ist ein Tummelplatz voller Menschen mit ausgeprägter Neigung zum Sadismus. Der Schlimmste von ihnen ist Tom-s. Was im Mittelalter der Folterknecht war, bezeichnet sich heute als «Event- und Hüttengaudi-DJ». Seine Methoden der Peinigung sind vielfältig. Sie reichen von einer in Jägermeister ertränkten Interpretation von «Let it Be» bis zu einer Ländlerversion von «It’s My Life».
Das Publikum kennt keinen Schmerz. Es versammelt sich vor der Bühne zu einer Gymnastikstunde der Grausamkeit und schunkelt sich zu Liedern über die Suche nach dem Vogel-Lisi in die seelische Selbstverstümmelung. Es sind beklemmende Einblicke in eine sektenartige Parallelgesellschaft, angetrieben durch einen toxischen Mix aus Schümli Pflümli und gut durchgebratenem Grillgut.
Mein Körper hat die motorischen Voraussetzungen, um zu lachen, längst vergessen. Peach Weber ist nicht gekommen, um das zu ändern. Die Schweizer Koryphäe des Altherrenwitzes wurde ins Vorprogramm bestellt, um den Spannungsbogen des Leidens in die Höhe zu zerren. Er speit stammtischige Schenkelklopfer über Viagra und Dünnpfiff und sagt Gedichte auf, die wie Formeln zur Heraufbeschwörung der Dämonen des verwelkten Humors klingen.
Kein Erbarmen
Dann stehen sie auf der Bühne. Gölä und Trauffer, die beiden Hohepriester der pathetischen Mundartmusik. Mantraartig besingen sie die heilige Dreifaltigkeit der büetzerbuebischen Glaubensrichtung: Arbeit, Wochenende, Heimat. Auf den riesigen Bildschirmen im Hintergrund flimmern ununterbrochen Einspieler, die wirken, als hätte man Promotionsmaterial für Baustellenberufe mit einem Werbefilm für die Schweizer Alpen gekreuzt und mit der von Flammen besessenen Ästhetik einer Burger-King-Werbung getüncht.
Mit beinahe liebevollem Kummer denke ich an die Zeit zurück, als DJ Tom-s für meine Schindung zuständig war. Wieso lernt man die guten Momente des Lebens erst schätzen, wenn sie nicht mehr sind? Die Büetzer Bueben kennen keine Gnade. Mit jedem Heu bestäubten Akkordwechsel werkeln sie an einer Welt ohne Hoffnung.
Bis zum Fahrplanende wurden unbescholtene S-Bahn-Gäste mit Songs über Schwäne malträtiert.
So ist es wenig überraschend, dass in der Mitte des über zweistündigen Sets auch noch DJ Antoine dazugeholt wird. Auf einem kleingewachsenen Planzer-Camion spielt er den Erkennungshit jeder Grossraumdiskotheke: «Ma Chérie». Dabei wird er von einer Choreographie der ungelenksten Mitglieder des örtlichen Turnvereins, in deren Herzen der unerreichbare Traum vom Cirque du Soleil schlummert, begleitet. Es wirkt, als wäre der Besenwagen der Street Parade versehentlich in eine ländliche Dorfstrasse eingebogen.
Selfie mit DJ Antoine. Rechts im Bild: Kultz-Redaktionsleiter Martin Erdmann, sichtlich geistig verwirrt.
Zugaben sind ein perfides Spiel mit dem Glaube auf ein baldiges Ende. Die Büetzer Buebe kehren gleich zweimal auf die Bühne zurück, um in den Überresten ihrer Taten herumzustochern. Um 22.30 Uhr ist es überstanden. Das Stadion leert sich. 46’000 Besuchende werden wieder dem öffentlichen Verkehr überlassen. Bis zum Fahrplanende wurden unbescholtene S-Bahn-Gäste mit Songs über Schwäne malträtiert.