Meine persönliche Hölle
Was passiert mit einem, wenn man sich durch das Gesamtwerk des berüchtigten Büetzer-Troubadours hört? Unser Redaktionsleiter Martin Erdmann hat es ausprobiert. Ein Protokoll.
Martin Erdmann — 06/22/22, 07:15 AM
Weiss noch nicht, auf was er sich eingelassen hat: Kultz-Redaktionsleiter Martin Erdmann.
Dies ist kein lustiger Text. Er handelt von der Leidensfähigkeit des Menschen, von einer Reise an die Grenzen des Erträglichen, von der Suche nach dem Punkt der absoluten Verzweiflung. Dieser Text handelt von einem Tag nur Gölä hören.
09.00:
Der Geruch eines noch jungen Sommertags strömt durch das offene Fenster in mein Zimmer. Ich fühle mich innerlich gefestigt und bin gewillt, an das Gute auf dieser Welt zu glauben. Der Mensch ist ein edles Wesen voller Güte. So bestimmt auch Gölä. Ich drücke auf den Play-Button.
09.01:
Ich bin völlig am Ende. Wie naiv ich doch war, dieses Projekt zu starten. Niemals hätte ich gedacht, dass ich im Dienste der Wissenschaft aus dieser Welt scheiden werde. Denn nur so kann es in den Ohren klingen, wenn der Körper langsam für immer erschlafft. Und ich befürchte, dieser Song hat sogar eine zweite Strophe.
09.14:
Ich habe mich wieder gefangen. Die Herz schlägt regelmässig, die Atmung ist stabil. Doch mein Nervenkostüm bleibt fragil. Wie ich in den ersten vier Tracks feststellen musste, kann überall ein Gitarrensolo von Zlatko «Slädu» Perica lauern. Gitarrensolos – nichts vertont den verzweifelten Schrei nach ungeteilter Aufmerksamkeit besser.
Ist Gölä ein geheimer Pionier der Wokeness?
09.50:
Habe ich ihn all die Jahre völlig falsch eingeschätzt? Ist Gölä ein geheimer Pionier der Wokeness? Auf dem letzten Lied seines ersten Albums singt er darüber, wie er mit Indianern gegen den «bösen, weissen Mann» kämpfen will. In die heutige Zeit übersetzt: Er solidarisiert sich mit People of Color und sägt mit ihnen an den Stützen der patriarchalischen Unterdrückungs-Maschinerie des imperialistischen Westens.
09.32:
Ich werde aus Gölä nicht schlau. Manchmal singt er von Staub auf der Lunge und Dreck auf der Zunge, um seinen flammenden Stolz über seine Berufstätigkeit auszudrücken. Dann versinkt er aber wieder in Selbstmitleid wegen den Schattenseiten seines proletarischen Lebensentwurfs. Wieso kapiert er nicht, dass die Lohnarbeit die Wurzel all seiner Probleme ist?
10.12:
Wenn ich meinem lyrischen Verständnis trauen kann, ist die Hauptaussage sämtlicher Gölä-Texte, dass er gerne einmal in die Ferien fahren möchte.
10.35:
Ich werde von leichtem Schwindel befallen. Göläs textliche Diversität hat sich erweitert, dreht sich nun aber in ständigem Kreisverkehr. Das zweite Album in wenigen Sätzen zusammengefasst: Gölä will arbeiten. Gölä will nicht mehr arbeiten. Gölä entschuldigt sich bei einer Frau, die er schlecht behandelt hat. Gölä trinkt alleine ein Bier in einer Bar. Gölä ist traurig. Gölä fährt Auto und hört Radio. Gölä will mit den Zugvögeln in den Süden fliegen.
10.36:
Nachtrag zu oben: Ich verzichte in diesem Protokoll darauf, Göläs Songtexte zu duplizieren. Das hat mit meinem eigenen Unvermögen zu tun. Ich weiss nicht, wie man diesen kuhkäffischen Berner-Mittelland-Dialekt verschriftlichen soll. Dieser hört sich permanent an, als müsse er notfallmässig in die Logopädie eingeliefert werden.
11.10:
Ich befinde mich bereits seit über zwei Stunden in Göläs Gewalt. Bei Geiselnahmen kann es vorkommen, das die Opfer plötzlich Sympathien für ihre Peiniger entwickeln. Auch ich habe diesen Punkt erreicht. Merkwürdige Fragen durchwandern meine Gedanken: Wieso habe ich kein Tribal-Tattoo auf dem Oberarm? Weshalb fahre ich keinen Pickup-Truck? Und warum habe ich keine Kinder, die ich schlagen kann?
11.26:
Ich bin wieder klar im Kopf. Wünschte mir aber, das gerade Gehörte vergessen zu können. Gölä spielt ein Medley aus The Offspring, Faithless und den Backstreet Boys. Müsste unsere Jugend vor sowas nicht geschützt werden?
12.15:
Wenn ich ein Ziel im Leben habe, dann ist das, niemals ein Mensch zu werden, der sich drei ganze Gölä-Alben am Stück anhört. Doch genau das ist nun passiert und ich weiss nicht, wie ich damit umgehen soll.
12.37:
Notiz an mich selber: Immer wenn man meint, dem Leben seien die Ideen ausgegangen, um einen zu peinigen, kommt Slädu mit einem Gitarrensolo um die Ecke.
12.58:
Seit ein paar Tracks begleitet mich eine diffuse Angst. Ich fürchte mich dafür, das plötzlich dieser eine Song kommt, der mich Gölä schlagartig verstehen lässt und mein Leben unvermittelt auf den Kopf stellt. Ich ziehe nach Steffisburg, heirate dort d’Trixle, die im Coiffeursalon Vier-Haareszeiten den kessen Mitvierzigerinnen des Ortes rassige Meshes in die Kurzhaarfrisur färbt und im Ochsen den Pub-Rekord im Dartschiessen hält. Jeder neue Songbeginn versetzt mich in Panik.
Ich habe seit zwei Jahrzehnten erfolgreich verdrängt, dass Gölä auf Englisch gesungen hat.
13.45:
Es gibt Erinnerungen, die so zermürbend sind, dass wir sie in die abgelegensten Kerker unseres Unterbewusstseins sperren. Dort nagen sie an den angespannten Strängen der Psyche, bis sie von einem unheilvollen Ereignis wieder an die Oberfläche gezerrt werden. So auch beim Abschluss von Göläs drittem Studioalbum. Ich habe seit beinahe zwei Jahrzehnten erfolgreich verdrängt, dass er auch einmal auf Englisch gesungen hat.
13.50:
Wie konnte er mich nur so täuschen? Aus dem woken Anti-Imperialist vom ersten Album ist plötzlich ein strammer Rechtsnationalist geworden. Es wird eifrig gegen das Justizsystem und Sozialhilfe-Empfänger*innen gehetzt.
14.13:
Ich höre nun bereits 78 Gölä-Songs am Stück. Mein Spotify-Algorithmus wird sich davon nie wieder erholen.
14.30:
Gölä will jetzt nicht mehr in die Ferien fliegen, sondern viel mehr einfach nach Bern reisen, um all jene zu ächten, deren Berufstätigkeit keinen Werkzeugkasten vorsieht. Fun Fact: Auf diesem Album wird Gölä nie müde zu betonen, dass er ein hart arbeitender Mann ist. Jedoch ist die Spielzeit dieser Scheibe mit Abstand die kürzeste in seiner Diskographie.
14.40:
Jetzt spannt Gölä mit Trauffer zusammen. Das Yin und Yang des schlechten Geschmacks.
15.13:
Meine Auffassungsgabe hat stark abgenommen. Der ewig gleiche Rockbeat wird nun gelegentlich durch Anbiederungen an den Soundtrack aus Grossraumdiscos ersetzt. Ich möchte, dass es endlich aufhört.
15.31:
Ich denke an frühere Zeiten. Denke an den Menschen, der ich einst war, als ich heute Morgen aus dem Bett stieg. Was ist bloss aus ihm geworden? Ein letztes bisschen Lebenswille lässt den lethargischen Körper gelegentlich zucken. Aus den Augen ist jegliches Licht gewichen. Die Sonne scheint durch das offene Fenster. Im Kopf herrscht ewige Finsternis. Gölä und Trauffer singen einen zweistimmigen Refrain über den Wert eines Handschlags.
16.06:
Stille tritt ein. Eine schwere Geräuschlosigkeit hängt im Raum. Irritiert schaue ich auf den Bildschirm meines Laptops. Die Gölä-Playlist ist zu Ende. Ich weiss nicht, ob ich jemals wieder Musik hören kann.