Meine persönliche Hölle
Eingefleischte Winnetou-Fans? Glühende Trump-Anhänger*innen? Ist Line-Dance tatsächlich so klischeebeladen, wie wir es uns vorstellen? Ein Besuch bei den Rio Grande Dancers.
Lisa Kwasny — 10/25/22, 08:32 AM
Turnschuhe statt Cowboystiefel: In der Säli-Turnhalle wird in lockerem Outfit geübt.
Es ist Mittwochabend und ich stehe vor dem Eingang zum Säli-Schulhaus. Ich muss kurz innehalten und mich fragen, ob ich wirklich über diese Türschwelle treten will. Noch hat mich niemand gesehen, ich könnte umdrehen und einfach nach Hause gehen. Das Training der Rio Grande Dancers dauert 1,5 Stunden. Das bedeutet 1,5 Line-Dance mit dazugehöriger Country-Musik. Will ich mir das antun? Ich reisse mich zusammen. «Es ist nur Line-Dance» sag ich mir und trete ein.
Ich erwarte das Schlimmste. Cowboyhüte, Cowboystiefel und Fransenjacken. Der American Dream, hardcore USA-Fans. Es würde mich nicht überraschen, wenn jemand eine «Make America Great Again»-Kappe trägt. Sind das alles bloss Vorurteile oder werden sich meine dunklen Spekulationen bewahrheiten?
Während ich tanze, muss ich ab und zu kichern. Was tue ich hier?
In der Turnhalle treffe ich auf eine Gruppe älterer Frauen. Eine davon ist Mägi, sie leitet den Tanzkurs. Mägi ist klein und scheint ganz zart und man sieht ihr die Freude an der Sache an. Immer mehr Frauen trudeln ein, man gibt sich zur Begrüssung die Hand und stellt sich mit Vornamen vor. Ich bin etwas eingeschüchtert und perplex, es sind ja alle so nett hier. Weit und breit keine Wild-West-Romantik. Eine einzige Person trägt Lederstiefel, ansonsten falle ich mit meinen Turnschuhen gar nicht auf.
Wir warten auf den Trainingsstart und ich frage eine Teilnehmerin, wie sie zum Line-Dance gekommen ist. «Ich habe lange Paartanz gemacht», sagt sie, «aber dann hatte ich keinen Tanzpartner mehr. Jetzt mache ich Line-Dance, weil ich hier auch allein tanzen kann.»
Mittlerweile sind alle eingetroffen und wir stellen uns in Reihen auf. Mägi erklärt den ersten Tanz. Kaum dudeln die ersten Country Klänge aus der Stereoanlage, geht es auch schon los, wir bewegen unsere Füsse, drehen uns und ich bin etwas überwältigt, wie schnell das alles geht. Ich habe den grössten Teil meines Lebens Tanzunterricht genommen, aber diese Line-Dance-Schrittfolgen und Drehungen sind gar nicht so einfach. Während ich tanze, muss ich ab und zu kichern. Was tue ich hier?
Gute koordinatorische Fähigkeiten sind beim Line-Dance von Vorteil.
Das Lustige am Line-Dance finde ich, dass ein Tanz einfach wiederholt wird, bis der Song zu Ende ist. Danach lernt man den nächsten Tanz. Die Hände sind dabei meistens in der Hosentasche oder einfach entspannt, der Körper gerade, nur die Füsse bewegen sich.
Am Anfang versuche ich noch, mich zu konzentrieren, aber irgendwann lässt mein Interesse und auch meine Konzentration nach, ich schunkle mit der Gruppe mit. Als ich merke, dass man sich hinsetzen darf, wenn man eine Pause braucht, tue ich das. Ist eigentlich ganz easy hier, mehr Turnverein als hardcore Reihentanzen. Die Country Musik geht mir zwar mittlerweile auf den Wecker, aber damit kann ich leben.
23 Country-Hits auf einer CD.
Ich komme mit zwei Frauen ins Gespräch, die am Rand der Tanzfläche Pause machen. Früher gingen sie in einen Line-Dance-Kurs in Malter, aber da seien die Leute für ihren Geschmack etwas zu verkrampft gewesen. «Bei grossen Line-Dance-Festen gibt es solche, die kennen zu jedem Lied einen Tanz. Das ist schon cool anzusehen. Aber ich vergesse die Tänze schnell wieder. Ich bin einfach hier, weil es Spass macht», sagt die grössere der beiden.
Ich frage sie, ob sie auch hier seien, weil sie USA-Fans wären. Sie schauen mich etwas irritiert an: «Sicher nicht von den USA, wie sie jetzt sind. Höchstens vom Wilden Westen aus den Filmen. Aber ich glaube, die meisten sind hier, weil sie Country mögen und wegen der Gemeinschaft», antwortet die andere.
Country-Musik ist der Soundtrack zum amerikanischen Selbstbetrug.
Die Aussage überrascht mich, aber ich bleibe doch misstrauisch. Warum werden dann an den Line-Dance Veranstaltungen, die ich gesehen habe, USA Flaggen aufgehängt? Wahrscheinlich gibt es verschiedene Motivationen. Trotzdem; die Ideale, die auch Westernfilme vermitteln, finde ich schwierig.
Das Bild des einsamen, wortkargen Cowboys, der mit seinen Schiesskünsten wehrlose Frauen rettet, stellt ein veraltetes Geschlechterbild dar. Gerechtigkeitsliebende bewaffnete Gentleman stellen Recht und Ordnung im Staat wieder her. Mit den netten Indianern sind sie befreundet und nur die bösen Indianer werden umgebracht.
Der Massenmord, der die Kolonialisierung der USA begleitete, wird in diesen Filmen nie thematisiert. Sie reproduzieren ein ideales Selbstbild der weissen Amerikaner*innen und verschleiern die Realität. Und Country-Musik ist der Soundtrack zu diesem Selbstbetrug.
Cowboyhüte und Karohemde: So präsentieren sich die Rio Grande Dancers. (Foto: zvg)
Mittlerweile ist die Lektion zu Ende und alle packen ihre Sachen zusammen. Als ich mich verabschiede, schlägt mir eine Teilnehmerin vor, ich solle doch beim nächsten Mal ein paar junge Leute mitbringen, dann könnte man auch schnellere und wildere Tänze ausprobieren. «Mal schauen», antworte ich und lache mit dem Wissen, dass das nicht passieren wird.
Ich habe definitiv nicht das Bedürfnis, nochmal Line-Dance zu tanzen. Aber ich verlasse das Säli-Schulhaus trotzdem mit einem positiven Gefühl. Es tat gut, aus meiner Bubble rauszukommen und zu sehen, dass meine Vorurteile nicht bestätigt wurden.
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