Carrie
Horror hat unserer Autorin fürs Leben gelernt. So auch Stephen Kings Buch über ein unverstandenes Mädchen.
Sarah Stutte — 11/29/23, 12:14 PM
Musste vieles über sich ergehen lassen, bis sich sich zu wehren begann: Carrie. (Fotos: zvg)
Ich habe schon recht früh eine Vorliebe für das Horrorgenre entwickelt. Mit neun Jahren guckte ich mir heimlich im elterlichen Wohnzimmer – die Erziehungsberechtigten waren an diesem Abend ausgeflogen – eine Alfred Hitchcock-Reihe an und es war um mich geschehen. Ich war total fasziniert von der Spannung.
Knapp zwei Jahre später schenkte mir ein älterer Nachbarsjunge ein Buch, dass meine bis dahin relativ harmonische Welt in den Grundfesten erschütterte: «Carrie» von Stephen King. Auch dieses musste ich wiederum «im Versteckten» lesen – also mit der Taschenlampe unter der Bettdecke – wollte ich nicht einen mehrjährigen Hausarrest riskieren.
«Carrie» war nicht nur das erste Stephen King Buch, das ich in die Finger bekam, sondern auch sein erstes, 1974 veröffentlichtes Werk. King hatte bis dato schon vier Romane und unzählige Kurzgeschichten geschrieben, doch nichts davon konnte die Verleger überzeugen. Bis Carrie White auf der Bildfläche erschien.
Stephen King hat Carrie im Jahr 1974 geschrieben.
Stephen King hat später immer wieder solche jugendliche Helden erschaffen. Aussenseiter, die mit übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet sind und diese nutzen, um sich zu wehren. Doch Carrie war etwas Besonderes, nicht nur, weil sie eine seiner erfolgreichsten Frauenfiguren wurde. Man leidet mit ihr mit, weil man sich ein Stück weit in ihr erkennt. Jedenfalls diejenigen, die sich irgendwann schon einmal unverstanden, einsam und anders gefühlt haben.
In der Geschichte wird die 16-jährige Protagonistin von ihrer religiös-fanatischen Mutter unterdrückt und in der Schule gemobbt. Der Vater starb vor Carries Geburt bei einem Unfall. Als das scheue Mädchen nach dem Sportunterricht in der Dusche ihre erste Periode bekommt, meint sie sterben zu müssen. Carrie wurde von ihrer Mutter nie aufgeklärt, denn alles was nur annähernd mit Sex zu tun hat, ist in den Augen von Margret White satanisch.
Für Carrie war die Schulzeit besonders hart.
Die andauernden Hänseleien der Mitschüler und der zunehmende Wahn der Mutter lassen in Carrie ihre tief in ihr schlummernden telekinetischen Fähigkeiten erwachen. Dann wird sie auf ihrem Abschlussball brutal gedemütigt – der berühmte Eimer mit Schweineblut kommt hier zum Einsatz. Carrie rächt sich blutig, indem sie in ihrer Wut und Verletztheit ihre gesamten Kräfte einsetzt und die Schule bis auf die Grundmauern niederbrennt.
Auf dem Weg nach Hause hinterlässt Carrie eine Spur der Verwüstung, fast die gesamte Stadt wird in Schutt und Asche gelegt. Derweil schmiedet ihre Mutter eigene Pläne, um ihre Tochter als Jungfrau zu konservieren – indem sie ihr selbst an die Gurgel will. Beim «Home Sweet Home»-Showdown sticht Margret mit dem Messer auf ihr Kind ein, woraufhin Carrie per Telekinese ihr Herz zum Stillstand bringt, bevor sie selbst stirbt.
In der Verfilmung, die Regisseur Brian de Palma nur zwei Jahre später ins Kino brachte, ist Margrets Ende (gespielt von Piper Laurie) noch ein wenig bösartiger. Hier wird sie von Kruzifixen durchbohrt, die Carrie (eine grossartige Sissy Spacek) mittels ihrer besonderen Fähigkeit quer durch den Raum auf sie zuschiessen lässt. Damit wollte de Palma die Kleinstadt-Bigotterie vollends aus den Angeln heben.
Viele schauen weg, grenzen aus und hänseln weiter, anstatt dem Mädchen zu helfen.
Ärgerlich ist jedoch der deutsche Zusatztitel des Films: «Des Satans jüngste Tochter». Dieser ist schon allein deshalb falsch, weil Carrie kein «Evil Child» ist, das böswillig agiert, sondern selbst ein Opfer ist. Zumal das Schlechte nicht von einer Person ausgeht, sondern von einer ganzen Gemeinschaft heraufbeschworen wird – die Kleinstadt, die Bewohner, die Schüler, die Lehrer, die Eltern – viele schauen weg, grenzen aus und hänseln weiter, anstatt sich die Mühe zu machen, dem Mädchen zu helfen.
Stephen King hatte in seiner Zeit als Lehrer gesehen, was Schüler sich gegenseitig antun. Das Grauen steckt in uns selbst. Dieser Subtext war – neben dem feministischen Befreiungsgedanken wie Frauen zu ihrer ureigenen Macht finden – für mich damals sehr eindrücklich. Mir war es von da an noch wichtiger, immer offen auf Menschen zuzugehen und niemanden auszugrenzen. «Carrie» ist deshalb mehr als nur ein Horrorbuch. es hat mich etwas Wichtiges fürs Leben gelernt und ist auch heute noch der beste Anti-Mobbing-Roman, den ich je gelesen habe.
Abschiede sind doof. Danke an alle bei Kultz, dass ich diese Kolumne hier schreiben durfte. Bleibt nerdig, alles andere wäre langweilig.
Nerdy Stuff Eine Liebeserklärung an Nischenprodukte: In dieser monatlichen Kolumne beschäftigt sich Sarah Stutte mit Dingen, die nie wirklich im Mainstream angekommen sind oder von ihm vergessen wurden. Egal ob Songs, Serien, Filme oder Comics. 1. Teil: Wie sich ein seltsamer 80er-Song in unsere Köpfe bohrte 2. Teil: Plüschtiere des Grauens 3. Teil: Das beste Comic aller Zeiten 4. Teil: Das einzige wirklich gute Auto 5. Teil: Das schlechteste Videospiel aller Zeiten 6. Teil: Für mehr Kitsch und weniger Alphamänner |