Briefe aus Belgrad
Zwischen Luxus und Zerfall: Die serbische Hauptstadt besteht aus einer Architektur der Vergänglichkeit. Unser Autor Nikola Gvozdic nimmt uns mit in diesen Betonjungel, in dem man besser die Augen und Ohren offen hält.
Nikola Gvozdic — 08/14/22, 12:31 PM
In Belgrad wurden einige Kriege ausgetragen. Man sieht es der Stadt an. (Fotos: Nikola Gvozdic)
Fast wurde ich mitten auf einem Zebrastreifen überfahren. Es ist nichts passiert, da ich mich gerade so noch mit einem unbeholfenen Hopser auf das Trottoir retten konnte. Ich weiss nicht, ob der Fehler bei mir oder beim Fahrer des klapprigen, roten Zastavas lag. Eigentlich ist das auch egal, weil so oder so ich den grösseren Preis gezahlt hätte. Der alte Wagen hätte diese Beule bestimmt auch noch vertragen. Ich eher weniger.
Trotz des wilden Verkehrs hier sind solche Situationen die Ausnahme. Ich glaube, dass an Orten, an denen liberaler mit der Auslegung der Verkehrsregeln umgegangen wird, immer auch alle aufmerksamer werden. Oder zumindest eher mit kritischen Situationen rechnen. Überall, wo man vorwiegend den Regeln vertraut, wird das Unfallrisiko bei unvorhergesehenen Ereignissen überproportional grösser.
Belgrad ist etwas hektisch. Auf den ersten Blick chaotisch. Aber seit meiner Ankunft ist die Stadt bereits viel ruhiger geworden. Die Sommerhitze treibt die Einheimischen fort. Raus aus dem Asphaltdschungel, vielleicht irgendwo an ein Meer.
Die Ruinen des ehemaligen Verteidigungsministeriums.
Im versiegenden Adrenalinschub nach meiner knappen Rettung vor dem apokalyptischen Blechmonster stolpere ich sofort über einen losen Stein im Trottoir. Natürlich habe ich den nicht gesehen. Manchmal scheinen Gefahren nie zu enden. Im Gegensatz zu unangenehmen Verkehrssituationen sind bauliche Mängel deutlich omnipräsenter.
Belgrad ist geprägt von seiner kriegsgebeutelten Geschichte. Mitten in der Stadt erinnern die Ruinen des ehemaligen Verteidigungsministeriums an das Nato-Bombardement von 1999. Man fragt sich, ob diese Ruinen aus Inkompetenz, Geldmangel oder doch als cleveres Mahnmal nach all den Jahren noch immer so leer und still in die Höhe ragen. Vielleicht ist es eine Kombination der drei. Über 40 Mal wurde die Stadt zerstört und war Schauplatz von über hundert Kriegen. Und genau so wird gebaut. Als ob die Menschen hier nicht wirklich damit rechnen, dass es ewig hält. Sie haben schon zu oft erlebt, dass nichts von Dauer ist. Das Rad der Zeit ist manchmal eine Abrissbirne, die wie ein Pendel gnadenlos zurückkehrt.
Die Stadt ist zu gleichen Teilen modern und heruntergekommen, und es scheint niemanden zu stören.
Es entstehen an fast jeder Ecke neue Gebäude, die solid, modern oder luxuriös das Stadtbild prägen sollen. Nur wird nichts instandgehalten. Überall grinsen einen Löcher aus Fassaden an, abgefallener Putz bildet psychedelische Muster, malträtierte Säulen stehen nur noch durch Wunder aufrecht, unebene Trottoirs lassen mehr Menschen stolpern, als betrunkenes Heimlaufen, kaputte Leitungen hängen überall runter, wie synthetische Lianen, und tropfende Klimaanlagen simulieren einen nie kommenden Regen. Die Stadt ist zu gleichen Teilen modern und heruntergekommen, und es scheint niemanden zu stören.
Der Zastava verschwindet ohne Hupen schnell hinter der nächsten Strasse. Das fehlende Hupen bedeutet für mich, dass er wohl doch irgendeine Schuld verspürt haben muss. Trotzdem verlasse ich mich ab jetzt konsequenter auf das altbewährte «warte, luege, lose, laufe».
Nach 14 Jahren kehrt Nikola Gvozdic nach Belgrad zurück. Entfremdet und doch verwurzelt entschlüsselt er, was ihm dieser Ort bedeutet. Er berichtet in sechs Episoden von seinen Erlebnissen, seinen Eindrücken, den Menschen und der Seele dieser Balkan-Metropole. Bisher erschienen: 1. Folge: Ein schwarzes Schaf in der Diaspora 2. Folge: Auf Belgrads wilden Strassen 3. Folge: Dunkle Wolken über Belgrad 4. Folge: Zwischen Punks, Anarchisten und Kriegsverbrechern 5. Folge: An der Europride-Parade 6. Folge: Mehr als fettiger Börek und vampirartige Polizisten |