Briefe aus Belgrad
Unser Belgrad-Korrespondent Nikola Gvozdic hat eine persönliche Wohlfühloase gefunden und berichtet von Gespräche über Kirchen und Trinkereien.
Nikola Gvozdic — 09/12/22, 09:00 AM
Hier hat Nikola Gvozdic seine persönliche Wohlfühloase gefunden.
Manchmal, wenn man Glück hat, findet man in dieser Welt, die einem sonst hin und wieder das Gefühl gibt, nicht wirklich richtig zu sein, an den unerwartetsten Orten Oasen des Wohlgefühls. Ich sitze auf einem Hocker in einer Buchhandlung, die genau das für mich ist.
Sie trägt den Namen eines Nicht-Ortes und ist nur unweit des berüchtigten mehrspurigen Slavija-Kreisels versteckt. Ein Zimmerchen voller Bücher, deren Anordnung auf den ersten Blick keiner Logik zu folgen scheint. Aber noch nie habe ich erlebt, dass so viele Bücher meinen eigenen Vorlieben entsprechen, als ob es sich um eine Extrapolation meiner eigenen Bibliothek handeln würde.
Neben mir sitzt der Besitzer des Ladens, selber Autor und Filmemacher. Ein vielbereister Mann mit einem enzyklopädischen Wissen über Kunst, Kultur und exotische Orte.
Kriegsverbrecher als Volkshelden
Es ist Abend und eine kleine, bunte Gruppe hat sich an diesem Nicht-Ort versammelt. Ein volltättowierter Altpunker und einige Jungintellektuelle und Anarchisten. Die Gespräche mäandern von Politik, zu Literatur, zu avantgardistischen Filmen, den Dead Kennedys und Nationalismus.
«Wie kommt es, dass Serben, die im Ausland leben, viel häufiger Nationalisten sind?», fragt eine Frau aus der Gruppe der Intellektuellen. Ich nehme an, dass es mit Identität zu tun hat.
Und Nationalisten sind sowieso immer lauter. Auch hier. Zumindest die Graffitis lassen die Stadt in einem eher fragwürdigem Licht erscheinen. Kriegsverbrecher werden als Volkshelden angepriesen, und an vielen Ecken prangt ein Z, das Hakenkreuz des 21. Jahrhunderts.
Aber so einfach ist es dann doch auch nicht. Für jedes Z lässt sich auch eines finden, dass zu einem Anti-Kriegssymbol umgewandelt wurde.
Aus einem Z lässt sich rasch ein Symbol für den Frieden machen.
Belgrad steckt in einem Kampf zweier Seiten, einer progressiven und einer konservativen. Es ist immer kompliziert. Wahrscheinlich ist sich das diese Stadt gewohnt. Man darf nicht vergessen, dass sie mal zum gleichen Reich gehörte, wie Istanbul und Bagdad. Aber an den Ausläufern Europas. Vielleicht gehört diese Zwiespältigkeit einfach dazu.
Der Punker, der jede seiner amüsanten Anekdoten mit «hört euch diese Krankheit an» einleitete, fragt mich, wie es denn in der Schweiz sei. «Serben, Koraten und so, kommen die miteinander klar?» Grundsätzlich schon. «Eben, das dachte ich mir. Jeder geht in seine Kirche, und dann gehen alle gemeinsam trinken. So war das in Jugoslawien auch. Ohne die Kirche natürlich. Kommunismus.» Er zögert kurz, als ob ihm eben jetzt etwas wichtiges eingefallen wäre. «Erst als alle wieder in ihre Kirchen gingen, fing das Schiessen an.» Er lacht dunkel. «So eine Krankheit.»
Meiner Antwort schmetterte nur eine stille Enttäuschung entgegen.
Der Glaube spielt in Serbien eine sehr wichtige Rolle. Bestimmt mitunter ein Grund, warum die EuroPride, die im September in Belgrad stattfinden sollte, von der Regierung aus Sicherheitsgründen verschoben wurde. Die Organisation pocht jedoch noch immer auf die vorgesehene Durchführung.
Mit einem unguten Gefühl blickt man dem Datum entgegen. Einige Tage zuvor, sass ich im Wohnzimmer einer Verwandten. Sie stellte mir die Gretchenfrage: «In welche Kirche gehst du? Gehst du in die Kirche?» Meiner Antwort schmetterte nur eine stille Enttäuschung entgegen.
Nach 14 Jahren kehrt Nikola Gvozdic nach Belgrad zurück. Entfremdet und doch verwurzelt entschlüsselt er, was ihm dieser Ort bedeutet. Er berichtet in sechs Episoden von seinen Erlebnissen, seinen Eindrücken, den Menschen und der Seele dieser Balkan-Metropole. Bisher erschienen: 1. Folge: Ein schwarzes Schaf in der Diaspora 2. Folge: Auf Belgrads wilden Strassen 3. Folge: Dunkle Wolken über Belgrad 4. Folge: Zwischen Punks, Anarchisten und Kriegsverbrechern 5. Folge: An der Europride-Parade 6. Folge: Mehr als fettiger Börek und vampirartige Polizisten |