Briefe aus Belgrad
Nach 14 Jahren kehrt Nikola Gvozdic nach Belgrad zurück. Entfremdet und doch verwurzelt entschlüsselt er, was ihm dieser Ort bedeutet. Er berichtet von seinen Erlebnissen, seinen Eindrücken, den Menschen und der Seele dieser Balkan-Metropole.
Nikola Gvozdic — 08/01/22, 10:13 AM
Nikola Gvozdic besucht nach 14 Jahren wieder die Heimat seiner Eltern. (Foto: Unsplash)
Nach einer dreizehnstündigen Reise über vier Grenzen fahre ich um Mitternacht auf der Autobahn mitten durch Belgrad. Zu dieser Uhrzeit sind nur vereinzelte Fahrzeuge anzutreffen. Die Strasse neigt sich nach unten und öffnet den Blick auf die Skyline. Alles kommt mir vertraut vor, trotz der Dunkelheit und trotz des Umstandes, dass ich seit über einem Jahrzehnt nicht mehr in dieser Stadt war.
Genau gesagt sind es 14 Jahre. 19 Jahre alt war ich damals. Ein anderer Mensch. Eine lange Zeit. Umso länger, da es sich eigentlich gehört, regelmässig «nach unten» zu gehen. Es ist ein so essentieller Bestandteil dieser Kultur, dass ich immer irritierte Blicke ernte, wenn ich anderen Balkanstämmigen erzähle, wie lange ich eben nicht unten war. Als ob ich mich gegen eine Pilgerfahrt sträuben würde. Ein schwarzes Schaf in der Diaspora.
Belgrad. Es ist der Name jener Stadt, die ich nenne, wenn mich jemand nach meiner Herkunft fragt und sich nicht mit meiner ersten Antwort zufrieden gibt. Wenn das erwartbare «Nein, ich meine, woher kommst du? Oder deine Eltern?» in irgendeiner Variation kommt. Belgrad. Ich nenne den Namen der Stadt, aber er hat keine tiefe Bedeutung. Ein hingeworfenes Wort. Meine Eltern sind hier aufgewachsen. Als Kind war ich oft hier. Aber eigentlich ist es ein blinder Fleck. Für mich ist Belgrad eine Abstraktion, ein Konstrukt aus Kindheitserinnerungen und Erzählungen.
(Foto: Nikola Gvozdic)
Mehrere Monate werde ich in der Hauptstadt Serbiens verbringen. Während der Fahrt habe ich nicht sonderlich daran gedacht, aber kaum setze ich den Fuss aus dem Auto und strecke mich, wie es sich nach langen Fahrten gehört, so richtig durch, spüre ich ein Kribbeln in meinem ganzen Körper. Es ist das Kribbeln, das kommt, wenn man einen neuen Ort entdeckt, wenn man sich ein wenig zu weit aus dem Fenster lehnt, wenn man sich im Schwimmbecken so weit wagt, dass man den Boden nur noch ganz knapp mit den Zehen erreichen kann.
Es ist die Aufregung vor dem Kennenlernen einer Stadt. Vor dem ersten Date. Es ist der Schwindel vor dem unendlichen Abgrund aller Möglichkeiten. Ich glaube, ich könnte mich in diese Stadt verlieben. Tief atme ich den unverkennbaren, typischen Duft einer Grossstadt ein. Abgase, Benzin, Kanalisation, ein Wind, der den kumulierten Geruch von Millionen Menschen und ihren Leben trägt.
(Foto: Unsplash)
Eigentlich wollte ich nur für ein paar Monate weg, egal wohin. Ich hätte irgendwo hingehen können und trotzdem entschied ich mich für Belgrad. Oder vielleicht genau deshalb. Es geht mir nicht darum, meinen Wurzeln nachzugehen. Ein Ort muss nicht gleich Identität sein. Belgrader, Luzerner, Zürcher, Berner, Schweizer oder Serbe, es sind alles nur Worte. Schall und Rauch, nicht wahr?
Ich will herausfinden, wie es ist, in einer Stadt zu leben, die man irgendwie kennt, die aber auch ganz anders ist. Vertraut und trotzdem in der Fremde. Was ist Belgrad?
Ich bin gekommen, um diesem Wort eine Bedeutung zu geben.
Nach 14 Jahren kehrt Nikola Gvozdic nach Belgrad zurück. Entfremdet und doch verwurzelt entschlüsselt er, was ihm dieser Ort bedeutet. Er berichtet in sechs Episoden von seinen Erlebnissen, seinen Eindrücken, den Menschen und der Seele dieser Balkan-Metropole. Bisher erschienen: 1. Folge: Ein schwarzes Schaf in der Diaspora 2. Folge: Auf Belgrads wilden Strassen 3. Folge: Dunkle Wolken über Belgrad 4. Folge: Zwischen Punks, Anarchisten und Kriegsverbrechern 5. Folge: An der Europride-Parade 6. Folge: Mehr als fettiger Börek und vampirartige Polizisten |