Briefe aus Belgrad
Unser Belgrad-Korrespondent Nikola Gvozdic kehrt in die Schweiz zurück. Was in seiner Kolumnenreihe alles unerwähnt blieb.
Nikola Gvozdic — 10/09/22, 11:00 AM
Nikolai Gvozdic hat nun eine klare Idee, was Belgrad bedeutet.
Wieder steht mir eine dreizehnstündige Fahrt bevor. Diesmal in die andere Richtung, zurück in den Westen. Es ist schon komisch, wie die Zeit vergeht. Ich erinnere mich an jeden Tag in Belgrad, aber wenn ich jetzt zurückblicke, ist es doch zu einem undifferenzierbaren Bündel Erinnerungen geworden.
Das trägt auch dazu bei, dass ich mich hier nicht mehr fremd fühle. Die Gerüche, die Anblicke, die Gefühle sind vertraut geworden. Die Fusswege, die mir am Anfang wegen all den neuen Eindrücken immer kurz erschienen sind, auch wenn sie eigentlich weit waren, sind jetzt viel länger geworden.
Über vieles habe ich nicht gesprochen. Ich habe nicht erzählt, wie es ist, in einer unendlich langen Schlange zu stehen, nur um an den besten Burek der Stadt zu kommen. Ein Burek, der so fettig ist, dass er das Einpackpapier durchsichtig werden lässt. Sowieso habe ich zu wenig vom Essen erzählt, und Essen ist ein so wichtiger Teil der Stadt. Überall sind Restaurants, Bistros und Essensstände. Es ist beinahe unmöglich, hier hungrig zu bleiben.
Ich habe nicht erzählt, wie mir ein Grillmeister seine Seele ausschüttet, wie er sich generell vor der Zukunft, und spezifisch vor dem kommenden Winter fürchtet. Die steigenden Nahrungsmittelpreise und eventuelle Energie-Engpässe sind auch hier ein Grund für Unsicherheit. Mitten in seiner Lamentation stösst er mich grob zur Seite, weil er einer Frau nachschauen muss. «Die Beste im Quartier», sagt er viel zu ernst. Ach, Conditio humana.
Ich habe nicht davon erzählt, wie wichtig die Kaffeekultur ist, oder das Beisammensein überhaupt. Die Menschen hier sind immer unterwegs. Egal an welchem Wochentag, die Bars sind gut besucht. Fast so, als ob niemand hier wirklich arbeiten müsste.
Ich habe nicht davon erzählt, dass Polizisten in der Nacht viel präsenter sind. Wie Vampire mit einem unstillbaren Durst nach Personalausweisen. Über die Bücherläden, die man an fast jeder Ecke findet, obwohl niemand mehr zu lesen scheint, habe ich auch nichts gesagt.
Nur Zigeuner und Kriminelle sind tätowiert, heisst es hier.
Oder die unüberschaubare Anzahl an Slot-Kasinos, die mit ihrem grellen Licht Spieler anlocken, wie ein Anglerfisch seine Opfer in der tiefen See. Glücksspiel nimmt die Armut leider viel zu gerne an die Hand. Oder vom Mann, der seinen Sohn aus der Wohnung warf, weil dieser sich tätowieren liess. Nur Zigeuner und Kriminelle sind tätowiert, heisst es hier.
Und den Humor? Habe ich den erwähnt? Es ist ein tiefschwarzer Humor, den die Leute hier so lieben, wie das letzte verbliebene Kind nach einer Pestwelle.
Sind das alles wichtige Dinge? Wer weiss schon, was wirklich wichtig ist, wenn man von einer Stadt zu erzählen versucht. Noch viel mehr bleibt ungesagt, aber für mich gehört alles dazu. Es sind alles Dinge, die zu einem Gesamtbild beitragen, wenn ich den Namen des Ortes nenne, an dem ich die letzten Monate war. Belgrad. Ich weiss jetzt, was ich damit meine.
Nach 14 Jahren kehrt Nikola Gvozdic nach Belgrad zurück. Entfremdet und doch verwurzelt entschlüsselt er, was ihm dieser Ort bedeutet. Er berichtet in sechs Episoden von seinen Erlebnissen, seinen Eindrücken, den Menschen und der Seele dieser Balkan-Metropole. Bisher erschienen: 1. Folge: Ein schwarzes Schaf in der Diaspora 2. Folge: Auf Belgrads wilden Strassen 3. Folge: Dunkle Wolken über Belgrad 4. Folge: Zwischen Punks, Anarchisten und Kriegsverbrechern 5. Folge: An der Europride-Parade 6. Folge: Mehr als fettiger Börek und vampirartige Polizisten |