Märchen aus der Hölle
Viele Menschen beharren desto unversöhnlicher auf ihrer Position, je weniger Gewissheit sie haben. Mit seinem fünften und letzten «Märchen aus der Hölle» stellt Christov Rolla die Frage: Ist das gut?
Christov Rolla — 05/23/22, 09:16 AM
Illustration: Cilgia Zangger
Es war einmal ein Bauer, der hatte zwei Söhne. Als es ans Sterben ging, teilte er sein Land in zwei gleich grosse Teile. Dem älteren Sohn, der beim ersten Hahnenschrei aus den Federn hüpfte, gab er jene Felder, die von der Sonne zuerst beschienen wurden; dem jüngeren aber, der gerne lange schlief, gab er die Felder im Abendrot. So konnten beide nach ihrer Neigung leben; und bald wurden sie von allen nur noch Morgenbauer und Abendbauer gerufen.
Morgenbauer und Abendbauer hatten sich lieb; sie blieben zusammen in ihrem Vaterhaus und teilten redlich miteinander, was sie hatten. Blieb der Pflug des Morgenbauers im kalten Acker stecken, half der jüngere Bruder ziehen; fand der Abendbauer nach der Dämmerung seine Kuh nicht mehr, half der ältere sie suchen. So waren sie ein Herz und eine Seele.
Eines Tages aber wurden alle Felder im Dorfe schwarz und faulig. Niemand wusste Rat, und kein Mittel half. Da kamen zwei Wahrsagerinnen in das Dorf, die eine von Süden, die andere von Norden.
Die Nordwahrsagerin sprach: «Bindet einer Ziege die Beine zusammen und legt sie bei Sonnenaufgang unter eine Eibe, so wird die schwarze Fäule verschwinden! Tut ihr dieses aber nicht, so werdet ihr des Hungers sterben.»
Die Südwahrsagerin aber sprach: «Bedeckt eine Ziege mit Linnen und bindet sie bei Einbruch der Nacht an eine Eiche, so wird die schwarze Fäule verschwinden! Tut ihr dieses aber nicht: Siehe Nordwahrsagerin.»
Als Frühaufsteher kam dem Morgenbauer der Rat der Nordwahrsagerin entgegen, und so legte er am anderen Morgen eine gefesselte Ziege unter die Eibe. Auf seinem Weg kam er bei der Eiche vorbei, wo bereits eine linnenbedeckte Ziege an den Baum gebunden war, denn seinem Bruder war als Nachtmensch die Empfehlung der anderen Wahrsagerin zupassgekommen.
An dieser Stelle könnte dieses Märchen eigentlich zu Ende sein, denn einer der beiden Zauber tat seine Wirkung, und nach drei Jahren blühten und grünten die Felder wieder, als wäre nichts gewesen.
Es ist aber eben doch etwas gewesen – und seither verachten sich die beiden Brüder aus tiefstem Herzen. Das kam so:
Morgenbauer und Abendbauer waren leidenschaftliche Ziegenmilchtrinker. Sie hatten aber nur die nämlichen zwei Ziegen, welche nun bei den Bäumen im Einsatz und daher unabkömmlich waren. Daher frugen sich die Brüder, welche Ziege zwecks Milchluststillung vom Zauberdienst abberufen werden könne. Hierfür aber musste entschieden werden, welcher Zauber erfolgsversprechend und welcher Scharlatanerie wäre. Und bei dieser Frage nun gerieten sich die Brüder fürchterlich in die Haare. Denn wiewohl sie beide nicht vorhersagen konnten, welcher Zauber wirken würde, und obzwar sie ihrer jeweiligen Lieblingszauberin reichlich blind vertrauen mussten, hielten beide felsenfest an ihrem Glauben fest, der binnen kürzester Zeit von einer vorsichtigen Annahme zu einer knallharten Überzeugung geworden war. Der eine bezichtigte den anderen der Linnengläubigkeit; der andere nannten den ersten einen Fesseltheoretiker. Und obwohl der eine Bruder in seinem Zweifel immer gewisser wurde und der andere immer weniger an der Ungewissheit zweifelte, wich erstaunlicherweise keiner mehr von seinem Standpunkt ab. Sie waren unversöhnlich geworden; und zu unguter Letzt schlachtete einer der beiden Brüder beide Ziegen, damit der andere nicht an die Milch käme.
So, jetzt ist das Märchen fertig, liebe Kinder. Wenn sie nicht gestorben sind, so reden sie noch heute nicht miteinander. Und wenn sie doch gestorben sind, so reden sie erst recht nicht mehr.
Märchen aus der Hölle Pandemie, Krieg und der alltägliche menschliche Wahnsinn: Wie soll das aktuelle Weltgeschehen nur in Worte gefasst werden, die nicht schon längst gesagt sind? Der Musiker Christov Rolla hat sich hierfür in eine Fantasiewelt verabschiedet. Aus dieser sendet er uns wöchentlich ein Märchen aus der Hölle. Weitere Märchen aus der Hölle: |
Dieser Artikel wurde im Rahmen im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.