Märchen aus der Hölle
Von wegen Spaltung der Gesellschaft: Haben sich die lautesten Leute womöglich selber abgespalten? Dieser Frage geht Christov Rolla in seinem dritten Märchen nach.
Christov Rolla — 05/09/22, 07:30 AM
Illustration: Cilgia Zangger
Es war einmal ein Schneiderlein, das fand sein Leben etwas würzelos. Es sprach zu sich: «Ich habe reichlich Tuch und Faden, ich mache viele Wämser und Westen. Mir mangelt nicht an Brot und Schmalz, ich habe eine Frau und zwei Freunde. Warum nur ist mir gleichwohl fad?» Es grübelte und grübelte und langweilte sich, doch kam es nicht zu einem Schluss.
Eines Tages aber kam eine Plage über das Land. Da befahl die Königin ihren Untertanen, Blaublümelein auf ihre Türschwellen zu streuen, um sich vor der Plage zu schützen, und nicht mehr in die Schenken zu gehen. Das Schneiderlein hielt nicht viel davon, es glaubte nicht an die Wirkung der Pflänzchen, und viel zu gerne ging es in die Schenke. Wie es nun aber sah, dass alle der Königin gehorsam waren, der Schmied und die Totengräberin, der Minnesänger und sogar die Jägerin, die alleine draussen im Wald lebte, wurde es zornig und rief: «Der Teufel soll mich holen, wenn die Königin diese Plage nicht ersonnen hat, um uns gefügig zu machen!» So liess es die Türschwelle unbestreut, ging jeden Abend in die Schenke und verlachte die Besorgten: «Gibt es nicht alle Jahr wieder eine neue Plage, und sind wir nicht immer davongekommen? Schützt nur eure Schwellen, sie werden’s wohl nötig haben! Die meinen aber sind von gutem Holze!»
Und weil die Plage auch in manches Haus Einzug hielt, dessen Schwelle getreulich bestreut worden war, des Schneiderleins Haus aber stets verschont blieb, begannen auch die Zuckerbäckerin und der Fischer zu bezweifeln, dass die Blaublümelein eine Wirkung täten. Dies bestärkte das Schneiderlein; es wurde immer zorniger gegen die Königin und die Blaublümleinstreuer, und manche Nacht zog es um die Häuser und blies ihnen die Blumen von der Schwelle.
In seinem Zorn aber fand das Schneiderlein, wonach es sich so sehr gesehnt hatte: Eine Lebendigkeit, eine Morgenfrische und eine dunkle Lust nach Aventüre. Indem es Zweifel statt Blaublümelein auf seine Schwelle gestreut hatte, hatte es aus sich selbst heraus ein zweites Schneiderlein geboren: Tapfer, stolz und einzigartig. So gefiel ihm das Leben und das Schneiderleinsein! Und weil es sich so sicher geworden war, dass, wo alle dasselbe sagten, das Gegenteil wahr sein müsse, fand und wollte es aus der bittersüssen Wonne des Widerstands nicht mehr heraus.
Und so bestieg es fortan die Droschke, bevor andere aussteigen konnten; es unterbrach den Minnesänger, wenn ihm ein Reim nicht gefiel; es entwarf im Geheimen Gegengesetze, hustete den Greisen ins Gesicht, warf halbtote Katzen in den Wald und rief: «Das ist guter Dünger!»
Als eines Tages Räuber das Städtchen überfielen und sieben Gendarmen mitsamt ihren Frauen und Kindern erschlugen, und alle verzweifelt waren, rief es: «Ja nun, kann man’s den Räubern verübeln? Die Gendarmen trachteten ihnen immerhin nach der Freiheit! Kein Wunder, wehrten sich die Räuber!» Und zwei Stiche später: «Wobei, man soll mir das Hirn aus dem Kopfe schneiden, wenn der Herold dies nicht alles insceniert hat, um uns hinter der Königin zu scharen!»
Da liess die Königin dem Schneiderlein das Hirn aus dem Kopfe schneiden. Alle Leute applaudierten; nur die Zuckerbäckerin und der Fischer fanden’s etwas übertrieben.
Märchen aus der Hölle Pandemie, Krieg und der alltägliche menschliche Wahnsinn: Wie soll das aktuelle Weltgeschehen nur in Worte gefasst werden, die nicht schon längst gesagt sind? Der Musiker Christov Rolla hat sich hierfür in eine Fantasiewelt verabschiedet. Aus dieser sendet er uns wöchentlich ein Märchen aus der Hölle. |
Dieser Artikel wurde im Rahmen im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.