Märchen aus der Hölle
In seinem zweiten «Märchen aus der Hölle» denkt Christov Rolla über die Parallelen zwischen Krieg und Rape Culture nach.
Christov Rolla — 05/02/22, 06:50 AM
Illustration: Cilgia Zangger
Es war einmal ein Mädchen, das hatte keinen Schatten. Wenn die Sonne am späten Nachmittag auf den Dorfplatz schien, warfen die Körper der jungen Menschen beim Brunnen lange Schatten, die beinahe bis zum Wirtshaus reichten. Nur jener der Bäckerstochter nicht.
Eines Tages frug der Sohn des Müllers sie keck, wie es käme, dass sie keinen Schatten habe, ob sie womöglich eine Spukgestalt sei. Er meinte dies zum Spasse, doch wurde es der Bäckerstochter weh ums Herz, und sie antwortete, sie wolle nicht mit ihm darüber sprechen, es sei dies seine Sache nicht. Er aber liess nicht ab von ihr; denn er war neugierig, und er mochte sie gern und wollte ihr helfen. Je mehr er aber frug, desto heftiger wehrte sie ihn ab, und je mehr er sie umgarnte und mit ungeschickten Scherzen über den Schatten befragte, desto weiter entfernte sie sich von ihm.
Schliesslich wurde der Müllersknabe zornig, und die schönen Augen, die er ihr gemacht hatte, wurden dunkel. Er hob zu feixen an, schalt sie ein verklemmtes Weibsbild und rief, mit ihrer Art und ohne Schatten würde sie nie einen Mann finden, der sie heiraten wolle. Da schlug das Mädchen ihm ins Gesicht, und sie tat dies mit solcher Kraft, dass ihm zwei Zähne ausfielen und die Nase krumm ward. Und wie er am Boden lag, stellte sie sich über ihn und antwortete, sie wolle ohnehin nicht heiraten, und wenn doch, dann gewiss nicht ihn.
Daraufhin jubelten ihr einige der umstehenden jungen Leute zu, während andere riefen: «Halte ein, du Furie! Gewalt erzeugt Gegengewalt, und du hast dich doch just letzte Woche dem Pazifismus angeschlossen! Halte still, dann hört er auf, und bald ist’s ausgestanden!»
Es ergaben sich nun Streit und Händel, Gezänk und Schubsen. Als aber der König davon hörte, entsandte er Soldaten zum Dorfplatz, um die jungen Leute zu verprügeln. Das Mädchen ohne Schatten jedoch liess er gefangen nehmen und in den Kerker werfen. Denn dort hinein schien die Sonne niemals, und so konnte der fehlende Schatten auch von niemandem mehr gesehen werden. So schütze er sie.
Dem Müller und seinem Sohne aber schenkte er eine neue Mühle.
Märchen aus der Hölle Pandemie, Krieg und der alltägliche menschliche Wahnsinn: Wie soll das aktuelle Weltgeschehen nur in Worte gefasst werden, die nicht schon längst gesagt sind? Der Musiker Christov Rolla hat sich hierfür in eine Fantasiewelt verabschiedet. Aus dieser sendet er uns wöchentlich ein Märchen aus der Hölle. |
Dieser Artikel wurde produziert im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.