Märchen aus der Hölle
In seinem ersten «Märchen aus der Hölle» schildert Musiker Christov Rolla, wie der Krieg in der Ukraine ihm und anderen das Singen abwürgte. Und er fragt sich, ob das angebracht oder selbstgefällig war.
Christov Rolla — 04/24/22, 02:58 PM
Illustration: Cilgia Zangger
Es war einmal ein Minnesänger, der lebte in einer kleinen Stadt am Fusse funkelnder Berge.Tagein, tagaus zupfte er seine Laute und sang dazu mit heller Stimme. Zu allem fiel ihm etwas ein: Er sang über die Vögel am Himmel und die mutigen Ritter vergangener Zeiten, er kündete von den schönen Gewändern der Zimmergesellen auf der Walz und von den schwarzen Wangen der Aussätzigen vor dem Tore. Die Leute hatten ihn von Herzen lieb. Manch ein Bürger gab ihm gerne einen Batzen, wenn er ihn musizieren hörte, und die Bürgerinnen hingen an seinen Lippen. So lebte der Minnesänger viele Jahre froh und zufrieden: Von den Batzen kaufte er sich sein Brot; vom Applaus aber nährte sich sein Gemüt. Und oft hörte man ihn jauchzen: «Ei, wie gut ich es hab!»
Zuweilen stieg ihm sein Glück aber auch ein wenig zu Kopfe, und wenn er beim dritten oder vierten Kruge in der Schenke sass, sprach er zu sich: «Wahrlich, ich bin ein wunderbarer Barde, es gibt keinen zweiten wie mich. Zu allem fällt mir etwas ein! Kein Wunder, lieben mich die Bürgerinnen!»
Eines Tages aber fing ein mächtiger König einen Krieg an, nur wenige Reiche entfernt. Viele Menschen starben, viele mussten fliehen, es war ein entsetzliches Gemetzel. Und wie nun die Bürgerinnen zum Minnesänger kamen, riefen sie: «Spiele, singe! Wir wollen getröstet werden und abgelenkt!»
Doch mit einem Male versagte dem Minnesänger die Stimme. Denn er war zwar eitel, aber er hatte ein weiches Herz, und der so nahe Krieg erschütterte ihn. Und so sass er nun stumm vor seinem Publikum und liess sein betrübtes Herz und seinen ängstlichen Verstand miteinander Hasch den Hasen spielen. Er konnte nicht über den Krieg singen, aber er konnte seine Gedanken auch nicht davon abwenden. Und wäre ihm ein lustiges Lied zur Ablenkung und zum Trost der Bürgerinnen in den Sinn gekommen, so hätte er’s doch nicht zu singen vermocht; es hätte ihm faul, falsch und seelenlos geschienen. Weil er aber ahnte, dass es den Geschändeten und Vertriebenen, den Verletzten und Zerbombten einerlei wäre, ob er sänge oder nicht, da er ohnehin von vollkommener Nutzlosigkeit für sie war, wie er still und ratlos bei der Brücke sass, so hoffte er umso inniglicher, dass ihm dereinst die Himmeltür trotz alledem einen kleinen Spalt weit offenstehen würde, weil er so gedankenvoll gewesen war und zu niemandem böse.
Auf Erden aber brachte er keinen Ton mehr heraus. Nach und nach gingen die Bürger davon, und die Bürgerinnen wandten sich von ihm ab; denn wer nicht singt noch spricht, dem lauschen keine Leute, und nach drei Wochen war der Krieg ja auch nichts Neues mehr. Und so bekam der verstummte Minnesänger keine Batzen mehr und auch keinen Applaus. Bald kam er ins Armenhaus und litt Hunger, bald wurde er aussätzig und vor das Tor gebracht, und ein halbes Jahr später war er gestorben. Übers Jahr wusste niemand mehr, dass es ihn gegeben hatte; und ein anderer Minnesänger nahm seinen Platz bei der Brücke und im Herzen der Bürgerinnen ein.
Märchen aus der Hölle Pandemie, Krieg und der alltägliche menschliche Wahnsinn: Wie soll das aktuelle Weltgeschehen nur in Worte gefasst werden, die nicht schon längst gesagt sind? Der Musiker Christov Rolla hat sich hierfür in eine Fantasiewelt verabschiedet. Aus dieser sendet er uns wöchentlich ein Märchen aus der Hölle. |
Dieser Artikel wurde produziert im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.