Märchen aus der Hölle
Die Pandemie, der Krieg und eigene Empfindlichkeiten beschäftigten uns in der letzten Zeit sehr. Dabei ging eine noch schlimmere Bedrohung beinahe vollständig vergessen.Mit seinem vierten «Märchen aus der Hölle» versucht sich Christov Rolla zu erinnern.
Christov Rolla — 05/15/22, 02:31 PM
Illustration: Cilgia Zangger
Es war einmal ein Land, in dem lebten die Menschen glücklich und zufrieden. Alle hatten, was sie brauchten, und das war nicht viel. Die Königin, der Wirtschaftsherold und die Grossmüllerin besassen ein paar Gulden mehr als die übrigen, aber jene fanden: «Pff, wegen der paar Groschen lohnt sich doch das Streiten nicht.» Und so blieb es friedvoll im Land, und die Weiden gediehen und die Blumen blühten.
Es wohnte nun aber auf einem hohen Berg eine finstere Zauberin, die hasste das Land und seine Menschen, die so bescheiden lebten und füreinander Sorge trugen. Und als wieder einmal ein fidel pfeifender Müssiggänger an ihrer Höhle vorbeiwanderte, lupfte es ihr den Zauberhut, und sie beschloss, bösen Samen zu säen: Sie trank ein Elixir, nagelte ein Füchslein an die Wand und sprach: «Desiderium sempiternum!»
Am nächsten Tag waren die Menschen wie verwandelt. Die Grossmüllerin fand Gefallen an den Gulden und wollte mehr davon und versprach dem Wirtschaftsherold einen Anteil, wenn er ihr hülfe. Also wuk der Wirtschaftsherold durch geschickte Versprechungen und schöne Wortmalerei die Begier nach Schmalz und Schinken jeden Tag, nach grenzenlosen Fuhrwerksfahrten und glitzernden Dingen für die Kinder. Die Aussicht auf solche Köstlichkeiten, Annehmlichkeiten und Firlefanz gefiel den Menschen sehr; und weil auch sie vom Fluche betroffen, bekamen sie nimmer genug davon, sondern wollten nach dem ersten Firlefanz einen zweiten Firlefanz und nach dem zweiten eine dritten und schliesslich immer mehr Firlefänze.
Sie gierten nach Novitäten. Hatten sie früher zur Abwechslung und Unterhaltung lediglich die Möglichkeit gehabt, die Sense mal so und mal so zu dengeln, oder sich neue Verse zu einem Lied auszudenken, hielten sie nun die Ereignislosigkeit nicht mehr aus und sehnten sich nach Fülle und Farbenpracht auch in bitteren Wintern. Und so arbeiteten sie immer fleissiger, um all die Dinge herzustellen, die sie hernach von ihrem Lohne kaufen konnten – und taten so zugleich ihre patriotische Pflicht, der Grossmüllerin und dem Wirtschaftsherold zu helfen, wo sie nur konnten.
Die Königin nickte zu alledem zufriedentlich, denn ein sattes Volk ist noch besser zu regieren als ein hungriges; vor allem wenn es zugleich unersättlich ist. Und so tat der böse Zauber seine weitere Wirkung:
Der Bäcker buk Brot für mehr Leute, als Hunger hatten. Der Müller kaufte sein Korn in andern Ländern, wo es hernach fehlte. Der Schlachter schlachtete mehr Schweine, als die Menschen essen konnten; die Försterin fällte den Forst, um Mais und Futterbohnen anzubauen. Das Schneiderlein wob mehr Gewänder, als die Menschen tragen konnten, und seine Gehilfin verbrannte die verbliebenen Kleider hernach im Hinterhof, um Platz zu schaffen für neue Kleider, die ebenfalls niemand je tragen würde. Die Menschen lebten faul und komfortabel, sie liessen sich die Dinge ins Hause bringen und reisten zugleich für Tand und Aussicht um die Welt. Die Abfälle und den Hunger verbannten sie dieweil weit hinter die sieben Meere, wo jemand anders sich drum kümmern mochte.
Als einige Menschen merkten, dass es Flora und Fauna bei alledem nicht gut erging, die Böden unergiebig wurden und die Wälder leer, wählten sie ein paar Naturschützer ins Bürgerbüro. Ansonsten änderten sie nichts. Denn so schön behaglich hatten sie’s sich eingerichtet! Und manch einer glaubte fest, es käme auf ihn nicht an. Klein Däumlein rief: «Gross Däumlein hat das gröss’re Haus, soll er es richten! Ich heiz ja nur mit Ästen!» – Gross Däumlein rief: «Die Grossmüllerin, die soll es tun! Die hat Fabriken! Ich heiz ja nur mit Bäumen!» – Die Grossmüllerin rief: «Das ist zu teuer, dann muss ich euch entlassen! Die Königin soll’s richten, ich heiz ja nur mit Wäldern!», und die Königin rief: «Der Ost-König hat viel das grössere Reich, der kann was bewirken! Und ich flieg jetzt nach Enneda. Tschü-hüss!»
Und so tat letztlich keiner was, und die Welt ging in die Binsen.
Märchen aus der Hölle Pandemie, Krieg und der alltägliche menschliche Wahnsinn: Wie soll das aktuelle Weltgeschehen nur in Worte gefasst werden, die nicht schon längst gesagt sind? Der Musiker Christov Rolla hat sich hierfür in eine Fantasiewelt verabschiedet. Aus dieser sendet er uns wöchentlich ein Märchen aus der Hölle. Weitere Märchen aus der Hölle: |
Dieser Artikel wurde im Rahmen im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.