Durch die Baselstrasse
Schlitteln auf Plastiksäcken, Schlägereien auf dem Metzgi-WC, kalter Entzug: In der Baselstrasse war schon immer etwas los. Alteingesessene erzählen aus ihrer Vergangenheit.
Lisa Kwasny — 02/20/23, 01:41 PM
Früher konnte man für 140 Franken an der Baselstrasse wohnen. So zum Beispiel auch Charlie Weibel. (Foto: zvg)
Wahrscheinlich gibt es in Luzern keinen Ort, der einen so grossen Durchlauf hat, wie die Baselstrasse. Wer es sich leisten kann, nicht hier wohnen zu müssen, geht oft, sobald sich eine Gelegenheit ergibt. Trotzdem gibt es solche, die schon seit mehreren Jahrzehnten in der Baselstrasse leben. Sie kamen jung und blieben.
Mit solchen Menschen habe ich gesprochen. Wie hat sich die Strasse verändert? Was vermissen sie? Und gibt es auch Dinge, die sich zum Guten gewendet haben?
Schläge mit dem Bambusstock
Silvio Brunetti durchlebte eine schwierige Kindheit an der Baselstrasse. Sein Vater kam als Arbeiter aus dem Tessin. Eine Zeit lang war er bei den SBB, dann hat er fürs Strasseninspektorat Zebrastreifen und Sicherheitslinien gemalt. Seine Mutter kam aus Zürich und hat im Restaurant Untergrund und im Maierisli serviert.
Silvio Brunetti verfiel früh dem Alkohol. Heute ist er seit 26 Jahren trocken. (Foto: zvg)
Weil Silvios Vater starker Alkoholiker war und seine Kinder einsperrte und schlug, hat das Jugendamt Silvio schon bald ins Waisenhaus gebracht. Die Mutter konnte die 11 Kinder nicht alleine versorgen. Das Waisenhaus lag vorne an der Reuss, am Anfang der Baselstrasse. «Wenn man nichts Böses gemacht hat, dann ging es», erzählte Silvio, «aber wenn man etwas angestellt hat, wurde man von den Schwestern vor allen gedemütigt. Es gab auch Schläge mit dem Bambusstock.»
«Ich war ein Halbstarker, ein Rocker und Punk. Aber ich war nie politisch, ich wollte nur saufen.»
Silvio Brunetti über seine jungen Jahre
Als 1971 die Jugendsiedlung Utenberg eröffnete, wurde Silvio dorthin verlegt. «Als ich da rauskam, hatte ich null Erfahrung vom Leben. Viele Kinder vom Waisenhaus hatten danach Probleme. Sie fanden keinen Job, keine Wohnung, nahmen Drogen. Viele haben Selbstmord begangen.» Das sei auch kein Wunder, sagt Silvio. Sie hätten dort keine Liebe erfahren.
Trotzdem hat er auch positive Erinnerungen an seine Kindheit in der Baselstrasse: «Im Winter sind wir auf einem Plastiksack die Bernstrasse runtergeschlittelt». Doch die fehlende Liebe hat Spuren hinterlassen. Silvio ist abgestürzt. «Ich habe früher nur gesoffen und mich geprügelt. Ich war ein Halbstarker, ein Rocker und Punk. Aber ich war nie politisch, ich wollte nur saufen.»
Hier startete Silvio Brunettis Alkoholkarriere: Im ehemaligen Restaurant Untergrund. (Foto: Lisa Kwasny)
Dass seine Mutter im Restaurant gearbeitet hat, habe auf ihn abgefärbt: «Ich war als Kind oft im Maierisli. Meine Mutter hat gearbeitet und ich sass den ganzen Tag dort rum. Irgendwann habe ich selbst angefangen, zu trinken.»
Nachdem er seinen Job verloren hatte, verdiente Silvio sein Geld mit Wetten. «Man konnte mir zum Beispiel ein Glas mit Senf, Mayo, Tabasco und so weiter mischen. Das habe ich dann getrunken.» Oder man konnte einen Bund Wunderkerzen anzünden und auf seinem Arm ausdrücken. «Mein Körper war mir egal», sagt Silvio schulterzuckend, «Hauptsache, es gab Geld.»
«Ich war auf dem WC, da hat mir einer mit dem Baseballschläger eins übergezogen und mein Geld geklaut.»
Silvio Brunetti über eine Begebenheit in der Metzgerhalle
Wenn Silvio seinen Vater in der Stadt antraf und ihn nach Geld fragte, ignorierte dieser ihn. «Das habe ich nicht gut vertragen», sagt Silvio. Erst später, als Silvio aufgehört hat zu trinken, hat er wieder den Kontakt zum Vater gesucht. Man sieht sie zusammen auf alten Hochzeitsfotos von seinem Bruder, Silvio trägt einen Anzug. «Das war das einzige Mal, dass ich so ein Ding getragen habe!»
Die Baselstrasse scheint ein raues Pflaster gewesen zu sein. «Es gab damals nur eine Spunte hier, das war die Metzgerhalle. Dort haben sie mich an der Fasnacht mal verhauen», erinnert sich Silvio. «Ich war auf dem WC, da hat mir einer mit dem Baseballschläger eins übergezogen und mein Geld geklaut. So war das damals», sagt er.
Auch heute lebt Silvio Brunetti noch an der Baselstrasse. (Foto: Lisa Kwasny)
Als Silvios Arzt ihm sagte, dass er in einem halben Jahr tot sei, wenn er so weitermache, hat Silvio einen kalten Entzug gemacht. «Ich wollte mit 30 noch nicht sterben.» Dass Silvio Epileptiker ist, verdoppelt das Risiko von Alkohol. «Ich hatte schon mehrere Anfälle. Manchmal wache ich irgendwo mit verschlagenem Kopf auf, weil ich allein wohne», erzählt Silvio.
Heute ist Silvio seit 26 Jahren trocken. Er ist froh, dass er mit dem Alkohol aufgehört hat. «Ich habe Glück, dass ich noch lebe», sagt er.
Viel Kunst, wenig Party
Charlie Weibel war 24, als er in die Baselstrasse zog. Das war 1985, damals zahlte er 140 Franken Miete. Dafür hatte er aber keine Badewanne oder Dusche. «Ich habe mir selbst eine Badewanne auf einem Sockel gebaut. Dann konnte das Wasser direkt ins Waschbecken abfliessen.»
So billig lässt sich heute wohl nicht mehr an der Baselstrasse wohnen. (Foto: Lisa Kwasny)
Auch eine Gasheizung gab es damals noch nicht, nur einen Brikettofen. Charlie bestellte jeweils 200 bis 300 Kilo. «Die Briketts wurden dann von zwei Leuten auf dem Rücken hochgetragen. Aber das reichte nicht, um die ganze Wohnung warm zu halten.» Weil Charlie Musiker ist, hatte er im Keller 30 Jahre lang ein Probelokal. Dieses wurde zu einer Waschküche umgebaut. «Das bedaure ich sehr.»
Charlie kam in die Baselstrasse, weil sein Onkel unten im Haus eine Werkstatt für Wappenscheiben führte. «Damals gab es in der Baselstrasse viele Künstler-Typen wie mich.» Doch an ein florierendes Nachtleben wie heute war hier nicht zu denken. Ausgangsmöglichkeiten waren keine zu finden. Mit dem Sentitreff hatte Charlie wenig zu tun. Er war eher im Sedel unterwegs.
Charlie Weibel in jungen Jahren. (Foto: zvg)
Damals sei die Baselstrasse verrucht gewesen, erzählt Charlie. «Hier gab es viele Schlägereien und Messerstechereien. In meinem Haus gab es sogar schon Mord und Todschlag». Er erzählt vom Paar, das in der Wohnung über ihm gestritten hat. Als Charlie vom Balkon hoch geschaut hat, fiel die Frau herunter. «Es wurde dann polizeilich geklärt, ob ihr Mann sie rausgeworfen hat, oder ob sie gestürzt ist», erinnert sich Charlie. Kurz darauf ist die Frau gestorben.
Und dann waren da noch die Drogen. «Eine Zeit lang war es auch extrem lästig mit der Dealerei. Gerade hier neben dem Haus waren sie immer am Verkaufen», erinnert er sich. Deshalb war viel Zivilpolizei an der Strasse unterwegs, um das Problem zu beheben. «Am Anfang haben sie mich auch kontrolliert, aber mit der Zeit kannten sie mich. Ich war nie für Drogen empfänglich», sagt Charlie.
Linke unerwünscht
Wer die Vergangenheit der Baselstrasse verstehen will, findet beim Sentitreff Antworten. Beim Quartiertreff mit der Hausnummer 21 führen viele Fäden zusammen. Um zu seinen Anfängen zu gelangen, muss weit zurückgespult werden. Dabei landet man unweigerlich bei Urs Häner und Josef Moser. Ich treffe die beiden im Q-Point 72, dem Raum neben dem Büro der Quartierarbeit, zum Gespräch.
Urs Häner (links) und Josef Moser gehören zu den Mitbegründern des Sentitreffs. (Foto: Lisa Kwasny)
Für Urs begann alles im November 1985. «Ich bin gerade vom Ausland zurückgekommen und mir sagte jemand, dass im Quartier einer wohne, den ich kenne. Das war Josef.» Heiligabend rückte näher und Josef fragte Urs, was er an Weihnachten mache. «Das war die Zeit, als man nicht so gerne an Familienfeste ging, weil die seit 100 Jahren gleich sind. Ich hatte wenig Lust darauf», erzählt Urs. Josef hatte darauf die Idee, eine Weihnachtsfeier im Quartier zu organisieren. Die beiden sind die Baselstrasse auf und abgelaufen, um einen passenden Raum zu finden.
Ihr erstes Quartier-Weihnachtsfest feierten sie im Lokal, wo bis vor kurzem die Molo-Bar wirtete. An Unterstützung von der öffentlichen Hand war damals nicht zu denken. Damals habe es noch keine gemeinschaftsorganisierte Struktur gegeben, sagt Urs. «Die Stadt war der Meinung, dass die Quartierarbeit Sache der Pfarreien und der Quartiervereine sei. Die Pfarreien haben das Alternative, Aufmüpfige und Linke aber nicht abgedeckt.»
Der Sentitreff in frühen Jahren. (Foto: zvg)
Deshalb hätten sie den Sentitreff gegründet. Angefangen hat dieser mit Quartierzmorgen, Kindernachmittagen und eben Weihnachtsabenden. Feste Räumlichkeiten hatte der Treff damals noch nicht. «Wir hatten nur das Gastrecht in den Räumen der Colonia Libera Italiana im alten Sentispital.»
«Alteingesessene Schweizer*innen sagten, dass wir ein Ausländertreff und linker Haufen seien.»
Josef Moser, Mitbegründer Sentitreff
Der Sentitreff entwickelte sich schnell zum wichtigen Treffpunkt im Quartier. Doch nicht alle Bewohner*innen begrüssten das. «Alteingesessene Schweizer*innen sagten, dass wir ein Ausländertreff und linker Haufen seien. Die wollten nichts mit uns zu tun haben», sagt Josef. «Das war aber gar nicht so!», wirft Urs ein, «wir waren am Anfang viel weniger international aufgestellt, als wir das gerne gehabt hätten.»
Über 80 Nationen
Heute sind Urs und Josef wichtige Knotenpunkte im Quartier. Urs leitet mit dem Verein «Untergrundgäng» Rundgänge durch das alte Arbeiter*innen-Quartier, Josef ist Präsident des Quartiervereins «Wächter am Gütsch». Dass die Baselstrasse heute so viele verschiedene Nationen beherbergt, ist für Urs kein Wunder: «In allen Städten wird aus dem Arbeiter*innen Quartier das Multikulti-Quartier», erzählt er.
Diese Entwicklung ist auch an der Baselstrasse festzustellen. Früher sind Leute aus dem Entlebuch, dem Seetal und weiterem Umland hierher gezogen. Hier gab es schon immer günstigen Wohnraum. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hat sich die Migration ausgeweitet, es kamen Menschen aus Deutschland, Österreich oder Norditalien. Die Baselstrasse bot seit der industriellen Revolution vor allem Wohnraum für Arbeiter*innen. Grund dafür war mitunter die Industrie auf der Reussinsel.
So landeten immer mehr Menschen verschiedener Nationen an der Baselstrasse. «Früher war sie vor allem von Schweizer*innen, Spanier*innen und Italiener*innen geprägt. Dann kamen Leute von Ex-Jugoslawien, später von Sri Lanka, dann von Eritrea und anderen afrikanischen Staaten», zählt Josef auf. Heute sind es über 80 Nationen, die hier wohnen.
Nirgends fühlt sich Luzern grossstädtischer an als in der Baselstrasse. Sie ist die Welt im kleinen mit all ihren guten und schlechten Seiten. Mit vielen Takeaways, Bars und Clubs, die bis spät in die Nacht geöffnet haben, bildet sie die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft ab. Gleichzeitig ist sie ein Ort der Beständigkeit, an dem auch Leute ihr Feierabendbier oder Frühschoppen trinken, die schon da waren, bevor die Strasse zum Schmelztiegel der Kulturen wurde. Die Baselstrasse ist eine Fundgrube an endlosen Neuentdeckungen. Und dennoch gibt es unzählige, unerforschte Ecken. Denn, um sie so richtig kennen zu lernen, ist ihr Wandel zu schnell. Dennoch durchqueren wir sie im Rahmen einer vierteiligen Reportagenserie, um eine zeitnahe Bestandsaufnahme zu erhalten. 1. Teil: Wohnen in der Baselstrasse |