Durch die Baselstrasse
Luzern hat kaum einen spannenderen Ort zu bieten als die Baselstrasse. Doch wie lebt es sich in dieser? Hausbesuche bei vier Bewohner*innen.
Lisa Kwasny — 02/06/23, 11:55 AM
Tiefe Mieten, aber viel Verkehr: In der Baselstrasse wohnt man zwar günstig, muss aber lärmresistent sein. (Fotos: Lisa Kwasny)
Der Baselstrasse eilt ein schlechter Ruf voraus. Sie ist die «rue de blamage», die Strasse, wo die «Coci-Dealer» wohnen. Doch wie lebt es sich tatsächlich an diesem Ort, der als «Ausländer-Quartier» über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist? Wer wohnt hier und warum?
Ich war bei vier Bewohner*innen zu Besuch. Sie erzählen von Kriminalität und Drogensüchtigen vor ihrer Haustür, aber auch vom Baden in der Reuss und der Freiheit in dieser Strasse.
Kein Gehör für den Lärm
Als ich Silvio Brunettis Wohnung direkt über dem Lädeli der Wärchbrogg betrete, schlägt mir vom offenen Fenster gleich wieder der Strassenlärm entgegen. Silvio, ein Mann Ende 50 in Trainerhosen, begrüsst mich gut gelaunt. Er müsse das Fenster offen lassen, sonst sei ihm zu heiss. Stört ihn der Lärm nicht? «Nein», sagt Silvio, «ich bin mir den Krach gewöhnt.»
Silvio Brunetti ist in der Baselstrasse aufgewachsen und hat nicht mehr vor, woanders zu wohnen.
Er nervt sich an etwas ganz anderem. Nämlich an der Abfallsituation. So komme es vor, dass Hausbewohner*innen ihre Müllsäcke zu spät rausstellen und diese dann dort liegen bleiben. Manchmal würden sogar Leute aus der Umgebung ihre Säcke vor seinen Eingang stellen. Weil er Hauswart ist, muss er das dann aufräumen.
«Wenn man hier aufgewachsen ist, dann ist es in einem drin.»
Silvio Brunetti über die Baselstrasse
Silvio hat schon sein ganzes Leben in diesem Quartier verbracht. Aufgewachsen ist er gleich vis à vis von seiner jetzigen Wohnung, in dem Haus, wo heute der Laden «Mama Afrika» steht. Ein paar Jahre hat er in einem anderen Stadtteil gelebt, danach kam er wieder zurück in die Baselstrasse. «Wenn man hier aufgewachsen ist, dann ist es in einem drin.»
Inzwischen wohnt Silvio seit fast 20 Jahren in diesem Haus. Grundsätzlich ist er zufrieden, die Wohnungen sind teilweise renoviert worden. Die Miete erhöhte sich zum Glück aber kaum, heute zahlt er 960 Franken für dreieinhalb Zimmer. Der Hauseigentümer mache aber nur das Nötigste. Die Heizungen würden nicht richtig laufen und weil der Boden so kalt war, musste Silvio selbst einen Spannteppich verlegen. «Im Gebäude hat es Löcher und wenn der Bus vorbeifährt, zittert das ganze Haus.» Wenigstens seien die Fenster neu und gut isoliert.
Von seiner jetzigen Wohnung aus hat Silvio direkten Blick auf das Haus seiner Kindheit.
Dann erzählt Silvio von einem ungebetenen Gast im Haus. Im Keller habe ein junger Mann gewohnt, von dem der Hauseigentümer gar nichts wusste. «Der hat überall Müll hinterlassen, kein Wunder, gibt's im Haus Ratten.» Erst als der Vermieter dem unerwünschten Bewohner auf die Schliche kam, verschwand dieser über Nacht. «Baselstrasse live», kommentiert Silvio.
«Dann hungere ich halt, bis der Lohn auf dem Konto ist.»
Silvio Brunetti über seine finanziellen Verhältnisse
Silvio lebt von wenig Geld. Er arbeitete als Hauswart im Neubad, doch wegen seinen Rückenproblemen musste er damit aufhören. Jetzt verdient er sein Geld bei der Caritas in Littau. Doch dieses ist knapp. «Ich habe jetzt noch 60 Stutz im Portemonnaie, bis der Lohn kommt. Ein wenig zu essen habe ich noch, aber das reicht nie.»
Das ist er sich aber gewohnt: «Dann hungere ich halt, bis der Lohn auf dem Konto ist.» Wenn es richtig kritisch wird, könne er im Lädeli unten das billige Zeug nehmen und anschreiben lassen. «Die kennen mich, die wissen, dass sie es wieder kriegen», sagt Silvio.
Für seine 3.5-Zimmer-Wohnung zahlt Silvio 960 Franken pro Monat.
Umziehen will er nicht mehr. «Hier habe ich alles, was ich brauche», sagt Silvio. Sein Leben spielt sich zum grössten Teil in dieser Strasse ab. «Manchmal gehe ich in der Nähe einen Kaffee trinken oder ich besuche einen Kollegen am Kiosk.» Weiter geht er wegen seinem Rücken und anderen gesundheitlichen Problemen nicht.
Manchmal trifft er sich mit Freunden, die nicht in der Baselstrasse wohnen, zum Jassen in der Stadt. Hierhin wollen seine Freunde nicht kommen. Silvio will aber gerne mal an einen Jass-Abend im Sentitreff gehen. Vielleicht würde eine Nachbarin von gegenüber mitkommen. «Sie will mit mir einen Jass-Verein gründen.»
Weil die Kinder zu laut waren
Vigitha Vagulesuaran erzählt mir schon am Telefon, dass das Quartier sehr viele Probleme habe. Sie wohnt seit 20 Jahren an der Lädelistrasse, direkt hinter der Baselstrasse. Ihre drei Kinder sind hier aufgewachsen und bereits wieder ausgezogen. Als ich bei ihrem Haus klingle, erwartet sie mich schon. Mich begrüsst eine herzliche Frau mittleren Alters, die gerne erzählt und viel lacht.
Vigitha Vagulesuaran lebt sein rund 20 Jahren in der Lädelistrasse.
Vigitha floh in ihrer Jugend vor dem Krieg in ihrer Heimat Sri Lanka nach Indien, wo sie eine Ausbildung als Lehrerin machte. Mit 18 Jahren heiratete sie ihren Mann, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit 10 Jahren in der Schweiz lebte. Weil ihre drei Kinder sehr laut waren und sich die Nachbarn in der alten Wohnung in der Zürichstrasse darüber beschwert haben, schauten sie sich nach einer neuen Wohnung um. «Wir mussten uns eine lautere Strasse suchen», sagt Vigitha.
Diese haben sie in der Baselstrasse gefunden. Direkt vor dem Balkon rast der Zug vorbei, es ist eine der meistbefahrenen Strecken in Luzern. Vigitha hat sich daran gewöhnt. Sie empfindet die Nähe zur Stadt und zur Natur als grössten Vorteil des Babel-Quartiers: «Wir gehen oft an der Reuss oder im Gütschwald spazieren. Ausserdem können wir überall zu Fuss oder mit dem Fahrrad hin.»
«Es kommen viele fremde Männer zu ihr und oft auch die Polizei.»
Vigitha Vagulesuaran über das Geschehen im Nachbarhaus.
Dennoch nennt sie auch Probleme an ihrem Wohnort: «Hier gibt es viele Drogensüchtige und am Wochenende ist immer etwas los». Oft beschwert sich Vigitha bei den Nachbarn oder ruft die Polizei. Ihre Tochter habe Angst gehabt, nachts allein nach Hause zu gehen. «Ich bin eine ältere Frau, bei mir ist das kein Problem», sagt Vigitha und lacht.
Am meisten stört sie aber, dass die Frau gegenüber Sexarbeiterin ist. «Es kommen viele fremde Männer zu ihr und oft auch die Polizei.» Ihr eigenes Haus sei ruhiger, hier würden vor allem Familien mit Kindern wohnen.
Hier hat sie ihre drei Kinder aufgezogen, die inzwischen alle nicht mehr zuhause wohnen.
Vigitha hatte schon viele Jobs in der Schweiz. Sie hat Kinder gehütet, geputzt, war bei einer Privatspitex und war sogar private Taxifahrerin. Weil einer ihrer zwei Söhne vor zwei Jahren Suizid beging, hat Vigitha eine Weile nicht gearbeitet. Die Trauer sass zu tief. Trotzdem ist sie sehr aktiv, unter anderem im Sentitreff. Früher habe sie Kochkurse für Schulkinder und Erwachsene durchgeführt, heute ist sie freiwillige Mitarbeiterin, kocht oder pflegt den Garten.
Im Sentitreff geht sie auch regelmässig zum Deutschkurs und am Freitag zum Kaffee International. Dort treffen sich viele Bewohner*innen des Quartiers, trinken Kaffee und reden. Als die Kinder klein waren, ging Vigitha mit ihnen zum Kindernachmittag. Dort konnte sie sich mit anderen Eltern austauschen, während die Kinder gespielt haben.
Ihr Sohn Gowskian hat diese Zeit gut in Erinnerung. Im Quartier bleiben will er aber nicht. «Es ist nicht der Ort, wo man Familie und Kinder haben will. Hier gibt es zu viele Drogen und Gewalt.»
Hinter dem Bahndamm
Irina Studhalter treffe ich in den letzten zwei Tagen, in denen sie im Quartier wohnt. Sie und ihr Freund Yanik ziehen zusammen in die Neustadt. Als ich bei Irinas Wohnung in der Dammstrasse klingle, merke ich, dass eine gute Freundin von mir im gleichen Haus wohnt. Die Liegenschaft ist voller WGs. «Die Nachbarn oben haben eine Feuertonne. Manchmal laden sie Leute ein, dann sitzen wir alle zusammen im Garten», sagt Irina. Sie ist ein wenig traurig, nach siebeneinhalb Jahren aus ihrer Wohnung auszuziehen.
Irina Studhalter wird ihre Wohnung an der Dammstrasse vermissen, auch wenn es ihr hier manchmal nicht ganz geheuer war.
Die Dammstrasse steht in einem starken Kontrast zur Baselstrasse. Ihre Eingänge liegen auf der einen Seite gegenüber vom Kaffee Kind und auf der anderen Seite beim Kreuzstutz. Wer von der lauten und geschäftigen Baselstrasse in die Dammstrasse einbiegt, hört durch den namensgebenden Bahndamm nichts mehr vom Lärm.
Hier wohnen auch weniger Personen mit Migrationshintergrund, die Altbauhäuser scheinen mit alternativen Familien und WGs gefüllt. Trotzdem hat die Nähe zur Baselstrasse einen Einfluss auf die Bewohner*innen der Dammstrasse. «Wenn ich in der Nacht allein nach Hause gehe, rufe ich Yanik an, um zu telefonieren. Es ist etwas unangenehm, dass die Strasse nur zwei Eingänge hat.»
«Vor einem Jahr hat jemand angefangen, in unserem Keller zu schlafen. Da war mir nicht mehr so wohl.»
Irina Studhalter über einen unerwünschten Gast im Untergeschoss
Eine Zeit lang hätten auf dem Parkplatz beim Kreuzstutz Sexarbeiterinnen auf Kundschaft gewartet und das andere Strassenende beim Gütsch habe als illegaler Warenumschlagplatz gedient, erzählt Irina. An der Baselstrasse fühlt sie sich wohler, weil dort zu jeder Tageszeit jemand unterwegs sei. Die Baselstrasse habe auch negative Auswirkungen auf die Dammstrasse. «Drogen sind Realität hier. Ich fand das immer easy, aber vor einem Jahr hat jemand angefangen, in unserem Keller zu schlafen. Da war mir dann nicht mehr so wohl.»
Die Nähe zur Baselstrasse hat aber auch Vorteile. «Wenn du hier wohnst, ist die Schwelle tiefer, auf dem Heimweg noch schnell in der Kegelbahn vorbeizuschauen. Das ist nice», sagt Irina. «Ausserdem lieben wir Disco Pizza. Wir holen uns bestimmt einmal pro Woche Pizza im Kaffee Kind.»
Im Gegensatz zur Baselstrasse herrscht hier vielerorts WG-Flair.
Irina genoss die Nähe zur Natur. «Es ist so geil, dass es das Gütschbähnli gibt. Man kommt von der Baselstrasse, wo mega viel los ist, geht ins Bähnli und kommt oben im Wald raus.» Irina war für die Jungen Grünen im Parlament und arbeitet als soziokulturelle Animatorin im Bereich Integration in Cham.
Ihre politische Einstellung habe geholfen, sich in der Baselstrasse wohlzufühlen. Aber das Wohnen im Babel-Quartier hatte auch Einfluss auf ihre Politik. «Ich habe gemerkt, wie wichtig Grünflächen wie das Dammgärtli und der Gütschwald für die Stadtbevölkerung sind.»
Wohnung mit Flussblick
Zuletzt besuche ich Charlie Weibel. Er wohnt seit 1985 im Haus an der Ecke beim Kreuzstutz. Als er Mitte Zwanzig eingezogen ist, hat er 140 Franken für seine 2.5-Zimmer-Wohnung bezahlt. Jetzt kostet sie 704 Franken. Charlie ist professioneller Musiker. Er arbeitet in verschiedenen Projekten als Schlagzeuger. Zudem illustriert er Bücher.
Charlie geniesst es, an der Baselstrasse zu wohnen: «Hier kann ich mich selbst sein. Ich lasse die Leute in Ruhe und sie lassen mich in Ruhe.» Dass er so lange an gleicher Stelle wohnt, war nicht geplant. Im Gegenteil. «In den 90er-Jahren habe ich gedacht, wenn ich mit fünfzig immer noch an der Baselstrasse lebe, habe ich es nicht geschafft im Leben. Aber das denke ich nicht mehr.»
Charlie Weibel sieht die Baselstrasse als seinen Rückzugsort.
Finanziell geht es Charlie gut, er beschreibt seinen Lebensstil als einfach und bescheiden. «Viele Freunde wundern sich, dass ich an der Baselstrasse leben kann. Sie finden es zu laut. Aber ich finde es super, auch mit der Nähe zur Reuss.» Charlie geht mit seinem Hund Billy oft spazieren, im Sommer springt er gerne direkt vor dem Haus in den Fluss.
Von seinem Balkon hat er momentan direkte Sicht auf die Reuss. «Das bleibt aber nicht lange so. Nur, bis das Haus vorne gebaut wird.» So geniesst er es, im Sommer auf dem Balkon in der Sonne zu sitzen und Zeitung zu lesen. «Ich habe den Balkon voll Oleander, es ist wie ein kleiner Dschungel.»
«Viele sterben. Ich mache mir dann Gedanken über diese Menschen, es tut mir leid, das mit anzusehen.»
Charlie Weibel über die Situation im Quartier
Natürlich geht aber die Baselstrasse nicht unbemerkt an ihm vorbei. «Die Typen, die hier unten vor dem Haus Drogen konsumieren, sind wirklich am letzten Zacken. Die sehen aus wie in einem Horrorfilm», erzählt er. Gewisse Personen sieht er regelmässig, dann plötzlich tauchen sie nicht mehr auf. «Viele sterben. Ich mache mir dann Gedanken über diese Menschen, es tut mir leid, das mit anzusehen», sagt er bedrückt.
Flussblick, aber nur auf kurze Dauer: Am Reussufer entsteht ein neues Haus.
Auch die Menschen, die in seinem Haus wohnen, seien in schwierigen Lagen. «Viele Leute, die hier wohnen, sind nicht auf Erfolgskurs», sagt er. «Sie können sich wahrscheinlich keine bessere Lage leisten und landen hier.» Er selbst hat mit seiner Partnerin für kurze Zeit in einer kleinen Villa in Emmenbrücke gewohnt. Als sie sich getrennt haben, war zufälligerweise die gleiche Wohnung, aus der er ausgezogen ist, wieder frei.
Seither wohnt Charlie wieder im Eckhaus am Kreuzstutz und will nicht mehr weg. «Für mich ist es hier ein Rückzugsort», sagt er sichtlich zufrieden.
Durch die Baselstrasse Nirgends fühlt sich Luzern grossstädtischer an als in der Baselstrasse. Sie ist die Welt im kleinen mit all ihren guten und schlechten Seiten. Mit vielen Takeaways, Bars und Clubs, die bis spät in die Nacht geöffnet haben, bildet sie die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft ab. Gleichzeitig ist sie ein Ort der Beständigkeit, an dem auch Leute ihr Feierabendbier oder Frühschoppen trinken, die schon da waren, bevor die Strasse zum Schmelztiegel der Kulturen wurde. Die Baselstrasse ist eine Fundgrube an endlosen Neuentdeckungen. Und dennoch gibt es unzählige, unerforschte Ecken. Denn, um sie so richtig kennen zu lernen, ist ihr Wandel zu schnell. Dennoch durchqueren wir sie im Rahmen einer vierteiligen Reportagenserie, um eine zeitnahe Bestandsaufnahme zu erhalten.
2. Teil: Ein Ort der vielen Kulturen 4. Teil: Droht die Gentrifizierung? |