Ich oder ADHS?
Mit ADHS wird der eigene Lebenslauf immer diverser und ausgefranster. Heinrich Weingartner erzählt in seiner letzten Kolumne, wie sich das anfühlt.
Heinrich Weingartner — 06/07/22, 06:00 PM
Heinrich Weingartner jongliert mehrere Betätigungen und sucht sich trotzdem immer neue. (Illustration: Lina Müller)
Ich bin 32 Jahre alt. Und in jüngster Zeit stelle ich mir immer häufiger die Frage: Sollte ich im Leben nicht weitergekommen sein? Man hört und sieht Lebensplanung bei seinen Mitmenschen: Kinder und Karrieren spriessen, die zweite und die dritte Säule füllt sich. Ich weiss nicht einmal, was die erste Säule genau ist und wie sie funktioniert. Wenn mich jemand fragt, was ich mache, habe ich da eigentlich keine klare Antwort drauf. Ich wusste als kleiner Junge nicht, was ich mal werden will und weiss es auch jetzt als grosser Junge noch nicht.
Eine Auffälligkeit bei gewissen Menschen mit ADHS ist, dass ihre Lebensläufe mit Neuanfängen und einem Sammelsurium an Nebenbeschäftigungen gespickt sind. Auch ich bin geradezu obsessiv damit beschäftigt, mich bei der Stange zu halten. Man sollte sein Leben auf drei intensive Rollen reduzieren, so steht es im Internet. Daran kann ich mich nicht halten. Ich habe mindestens zehn Rollen. Nachdem ich letztes Jahr mein Leben um einen Drittel meiner Betätigungen gekürzt habe. Alles ein bisschen, aber nichts richtig.
Ich werde mich wohl damit abfinden müssen, keinen geraden Lebenslauf zu haben.
Mein Selbstvertrauen ist wie ein Flummi: Es springt auf, ab, in alle Richtungen und ist unberechenbar, am meisten für mich selber. Im einen Moment bin ich total zufrieden mit mir. Aber eine Sekunde später steht ein kleines Teufelchen auf meiner rechten Schulter, das mich fragt: Ist das wirklich alles, was du zu bieten hast? Dieses Teufelchen ist nicht nur schlecht. Es fordert mich immer wieder aufs Neueste heraus. Das Problem ist, dass es auf meiner linken Schulter kein Engelchen als Pendant gibt. Ich bin streng mit mir, weil ich es schliesslich mal zu was bringen muss. Oder ich vertraue mir nicht genug, um mich auf drei intensive Rollen zu konzentrieren.
Die Strenge mit mir selber ist vermutlich nicht ADHS. Aber das Unvermögen, mich auf meine positiven Seiten zu konzentrieren. Ich bin viel zu abgelenkt von meinen Betätigungen und Neuanfängen. Manchmal google ich nach Berühmtheiten, die auch mit ADHS diagnostiziert wurden. Und dann gucke ich nach, in welchem Alter sie berühmt wurden oder ihren Durchbruch hatten. Um herauszufinden, ob ich das auch noch schaffen kann. Ich werde mich wohl damit abfinden müssen, keinen geraden Lebenslauf zu haben. Aber wieso auf vorgespurten Schienen fahren und auf Sicherheit spielen, wenn man eigene Schienen legen kann?
Ich oder ADHS? Unser Geschäftsleiter Heinrich Weingartner wurde vor sechs Jahren mit ADHS diagnostiziert. Er glaubt, dass ADHS kein medizinisches, sondern ein gesellschaftliches Problem ist. In dieser Mini-Reihe fragt er sich, ob seine Marotten zu seinem Charakter oder zu ADHS gehören. Folge 1: Wie eine Wüstenkatze mit ADHS |
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Dieser Artikel wurde im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.