Ich oder ADHS?
Ein Gedankenchaos haben wir manchmal alle. ADHSler Heinrich Weingartner hat es immer. Und das bringt grosse Unsicherheit.
Heinrich Weingartner — 05/25/22, 12:00 AM
Heinrich Weingartner ist gedanklich oft an mehreren Orten zugleich. (Illustration: Lina Müller)
Man kann nichts mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Ausser, dass wir im Kern alle unsicher sind. Auch ich: Tagein, tagaus studiere ich an Sätzen herum, die ich vor fünf Jahren einer alten Klassenkameradin auf der Strasse beim Vorbeigehen zugerufen habe. War das jetzt doof, hat sie das falsch verstanden, wieso bin ich so komisch. Und ich kann nicht einschlafen, weil ich Angst habe, dass ich nicht genüge und mich bis hierhin bloss irgendwie durchs Leben gemogelt habe. Alle anderen müssen als Kleinkind eine Bedienungsanleitung erhalten haben. Nur ich bin leer ausgegangen.
Während viele ihre natürliche Unsicherheit irgendwann mal akzeptiert, vergessen und auf Autopilot geschalten haben, kann ich mir selber dabei zusehen, wie ich das Gefühl habe, Minute für Minute in neue Fettnäpfchen zu treten. Nach einer Unterhaltung habe ich letztens einer Einzelperson bei der Verabschiedung «Tschau zäme!» gesagt, weil ich sämtliche von mir geäusserten Sätze noch während des Gesprächs im Kopf Revue passieren liess. Zusätzlich studierte ich noch an einem ewig zurückliegenden Streit und einer baldigen Sitzung herum. Es gibt Multitasking, mein Kopf fühlt sich manchmal an wie Omnitasking.
Entspannung oder gerades Denken ist selten möglich.
Diese Unsicherheit hat zwei gegensätzliche Verhaltensweisen zur Folge: Entweder dreht das Gedankenkarussell so heftig, dass ich kein Wort mehr herausbringe und mich zurückziehe oder aber ich rede unablässig, um meine Gegenüber zu überfordern, damit sie ja nicht denken, ich sei unsicher. Schweigen oder Plappern. Von aussen wird dieses Verhalten völlig anders interpretiert: Ich wirke arrogant oder gleichgültig. Ich würde nicht richtig zuhören können. Es könne nicht sein, dass ich unsicher bin, ich hätte doch solch eine selbstbewusste Ausstrahlung und wisse immer etwas zu sagen.
Das Gehirn von Menschen mit ADHS funktioniert anders. Entspannung oder gerades Denken ist selten möglich. Während andere ihre Impulse dirigieren können, herrscht bei Menschen mit ADHS gedankliches Chaos, die ganze Zeit. Denkbar unpassend für eine Leistungsgesellschaft, wo Mails innert zehn Minuten beantwortet und Menschen um acht Uhr morgens auf die Matte gehören. Vielleicht haben solche gesellschaftlichen Ansprüche die Diagnose «ADHS» erst ermöglicht? Aber vielleicht ist es auch bequem für mich, so etwas zu sagen. Ich bin unsicher.
Ich oder ADHS? Unser Geschäftsleiter Heinrich Weingartner wurde vor sechs Jahren mit ADHS diagnostiziert. Er glaubt, dass ADHS kein medizinisches, sondern ein gesellschaftliches Problem ist. In dieser Mini-Reihe fragt er sich, ob seine Marotten zu seinem Charakter oder zu ADHS gehören. |
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Dieser Artikel wurde im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.