Ich oder ADHS?
Heinrich Weingartner ist dank seines ADHS sehr begeisterungsfähig und kann weder Freude noch Wut besonders gut verbergen. Das bringt ihn in unangenehme Situationen.
Heinrich Weingartner — 06/01/22, 09:00 AM
Brennt für McRaclette und wird wütend, wenn es ihn nicht gibt: ADHSler Heinrich Weingartner. (Illustration: Lina Müller)
Es braucht nicht viel und ich bin auf 180. Das ist nicht bloss eine Selbsteinschätzung: Ein angehender Arzt meinte einmal zu mir, in Aristoteles' Vier-Säfte-Lehre sei ich ein Sanguiniker. Auf Wikipedia steht, dass neben Choleriker, Phlegmatiker und Melancholiker der Sanguiniker ein «heiterer, lebhafter und leichtsinniger Mensch» sei. Die Vier-Säfte-Lehre ist überholt. Aber Sanguiniker klingt schöner als «unkontrollierte Impulsivität». Als Sanguiniker kann ich beispielsweise nicht in einem Videospiel verlieren, ohne einen lautstarken Wutanfall zu kriegen. Und ich kann meine Freude nur mit Mühe verbergen, wenn der McDonalds den McRaclette wieder auf die Speisekarte nimmt.
Besonders gut eigne ich mich für Brainstormings, weil ich jede Idee als die beste aller Zeiten tituliere. Nicht nur meine eigenen. Ich glaube, mein Kopf muss bei jeder Geistesregung auf 180 schalten, damit er sich überhaupt darauf konzentrieren kann. Denn hinter einer vermeintlichen Kleinigkeit könnte sich auch etwas Wichtiges verstecken. Menschen ohne ADHS denken jedes Mal nach, urteilen und entscheiden dann. Fuck that, dafür habe ich keine Geduld. Das Gute daran: Es geht sicher keine gute Idee verloren. Das Schlechte daran: Es geht auch sicher keine schlechte Idee verloren. Es ist ultimativ anstrengend, erst auf halbem Weg zu merken, dass etwas eine schlechte Idee war. Leichtsinn halt.
Menschen, die ihre Gefühle nicht zeigen, sind mir suspekt.
Meine Begeisterungsfähigkeit wird meistens geschätzt, bringt mich aber auch in doofe Situationen. Ich war letztens über eine aus meiner Sicht unangebrachte Bemerkung eines Mobility-Mitarbeiters derart entrüstet, dass ich ihn am Telefon wutentbrannt anschrie. Das zu Qualitätszwecken aufgezeichnete Gespräch verwenden sie jetzt vermutlich bei Schulungen von Mitarbeitenden. Ein solcher Ausbruch beschäftigt mich danach noch tagelang. Ich bin innert Sekunden auf 180, aber auch genau so schnell wieder runter auf 0. Meine Ausbrüche tun mir deshalb auch immer wahnsinnig fest leid und ein armer Mobility-Mitarbeiter wird zum Grund, weshalb ich nachts nicht schlafen kann.
Viele Menschen können mit einem explosiven Temperament nicht umgehen. Wenn jemand wütend, begeistert oder leidenschaftlich wird, dann müsse das doch ernst gemeint und durchdacht sein. Bei mir ist das anders: Ich bin ein Opfer meiner oft und stark wechselnden Gemütsregungen und bin froh darum. Wenn ich meine Gefühle sofort zeige, finde ich das ehrlicher. Und vielleicht ist meine Wut auch deshalb immer gleich wieder so schnell vorüber, weil sie dann draussen ist. Menschen, die ihre Gefühle nicht zeigen, sind mir suspekt. Man weiss nie, was in ihren komischen, nicht mit ADHS ausgestatteten Hirnen vor sich geht.
Ich oder ADHS? Unser Geschäftsleiter Heinrich Weingartner wurde vor sechs Jahren mit ADHS diagnostiziert. Er glaubt, dass ADHS kein medizinisches, sondern ein gesellschaftliches Problem ist. In dieser Mini-Reihe fragt er sich, ob seine Marotten zu seinem Charakter oder zu ADHS gehören. |
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