Der neue Film von Christopher Nolan ist angelaufen. Was als «Rettung des Kinos» und «lupenreiner Hochglanz-Thriller» verschrien wird, ist effekthascherischer Habakuk.
Heinrich Weingartner — 09/10/20, 08:44 AM
Ein Virus geht um in der Welt: Der Christopher-Nolan-Hype. Nachdem Warner Brothers den Start von «Tenet» mehrere Male verschoben hat, ist es der erste erhoffte Kassenschlager nach dem anderen umgehenden Virus. Die Kinoaugen der Welt sind gerichtet auf Dich, Christopher Nolan. Was machst Du? Nach «The Dark Knight Rises», «Interstellar» und «Dunkirk» ist «Tenet» der neueste Eintrag in Nolans auf unbestimmte Dauer angesetzte Reihe des Scheissfilms. «Tenet» ist kalt, elitär, prätentiös. Und somit Nolans persönlichster Film.
«Diesen Film muss man halt mehrmals schauen. Erst dann versteht man ihn». Nein, diesen Film muss man nicht mehrmals schauen. Er ist so komplex wie Dünnschiss: Unverdauliches rein, Unverdauliches raus. Handlung: Ein namenloser, guter CIA-Agent (John David Washington) bekämpft einen bösen, reichen Russen (Kenneth Branagh). Dieser ist im Besitz einer Zeitmaschine, mit der man sich in der Zeit rückwärts bewegen kann. Weil der böse, reiche Russe deprimiert und unzufrieden ist, hat er mit anderen Bösen aus der Zukunft einen Pakt geschlossen. Zusammen kämpfen sie gegen das Heute. Der Russe sucht die neun Stücke einer Superwaffe, hat acht und bald alle neune. Damit will er sich und die ganze Welt in die Luft jagen, damit die Superwaffe verschüttet und von den Bösen in der Zukunft gefunden wird. Ist das alles? Nein, aber das Ende von «Tenet» eilt glücklicherweise aus der Zukunft auf uns zu.
Unübersichtliche Action
Die Prämisse mit gegenläufigen Zeitebenen erlaubt es Nolan, logik- oder handlungstechnische Löcher mit dem Futur II zu stopfen. Er kann filmen, was er will. Denn alles kann dadurch erklärt werden, dass es «gewesen sein wird». Fehlt irgendwo ein Anschluss? Brauchen wir noch eine Erklärung für Unerklärliches? Kein Problem, da taucht dann halt ein «invertierter Scherge» auf, der «schon immer da gewesen sein wird». Mit solchen Taschenspielertricks bestreitet Nolan sein trauriges Leben als Regisseur, der es in 50 Jahren «zu nichts gebracht haben wird». Schon «Interstellar» litt an einem solchen intellektuellen Geschwür. In der letzten halben Stunde löst Nolan dort das dramaturgische Tohuwabohu, in das er sich manövriert hat, mit relativitätstheoretischer, arg zurechtgebogener Esoterik: Raum und Zeit dehnen sich und deshalb kann man durch ein Bücherregal über zeitliche Dimensionen hinweg sehen. Schnarch.
Das Schlimmste daran: Christopher Nolan reichert seine Filme stets mit pseudointellektuellen Referenzen an, die der Geschichte rein gar nichts hinzufügen, aber die Belesenheit und Intellektualität des Machers bezeugen sollen. Wie der Philo-Erstsemestler, der im Seminar mit gewichtigen Namen um sich wirft, ohne dass dies der Sache dient. Die wissenschaftlichen Referenzen in «Tenet» dienen einzig und alleine der Selbstbeweihräucherung. Jede Szene schreit: Schaut her, wie viel ich weiss! Schaut her, wie intelligent ich bin! Der Zeitreisefilm «Twelve Monkeys» kommt ganz ohne wissenschaftliches Brimborium aus, er funktioniert auch so.
«Aber die Actionszenen waren toll, das musst Du zugeben.» Während CIA-Agenten und Russen sich gegenseitig mit schweren Waffen, eisernen Fäusten und hanebüchenen Dialogen bekämpfen, kämpft Christopher Nolan mit seiner eigenen Unfähigkeit, Regie zu führen. Keine Spur von zielführender Montage, massenweise verwirrende Anschlüsse, nicht vorhandene Dramaturgie. Scheiss drauf, filmen wir die Action einfach immer mit verwackelter Handkamera, drehen den blaugrünen Kontrast im Color-Grading auf 200% und fräsen in ruhigen Szenen mit unhörbaren Frequenzen richtig rein, damit auch die Hunde im Kino vom «einzigartigen Erlebnis für alle Sinne» (Deutsche Film- und Medienbewertung) profitieren. James-Bond-Filme haben toll gefilmte, um Einiges übersichtlichere Actionsequenzen. «Tenet» hingegen schaut sich wie ein zweieinhalbstündiger Trailer. Der Film muss seine fehlende Substanz mit unaufhörlicher Unruhe kaschieren.
Bummbumm - alles handgemacht. Auch die dramaturgischen Schwächen.
Puppen, keine Menschen
Das neueste Nolan'sche Unwerk ist erstklassige Scheisse, verkauft als glänzender Goldbarren. Eigentlich könnte jeder drittklassige Filmstudierende einen künstlerisch wertvolleren Film drehen. Aber: «Tenet» hat ein 200-Millionen-Budget. Darin ist nun bloss die Produktion des Films enthalten. Hinzu kommt nochmals dasselbe an Promotionskosten. Heisst: Etwa 200 Millionen fliessen in vorgefertigte Marketing-Floskeln, die an kaputtgesparte Kulturredaktionen geschickt werden, wo desinteressierte Social-Media-Praktikanten sitzen, denen Zeit und Erfahrung fehlen, um einen glänzenden Goldbarren als Stuss zu enttarnen. Hinten kommt das raus: «Wenn es noch einen Grund braucht, warum das Kino nicht sterben darf, hier ist er: Tenet, der spektakuläre neue Film von Christopher Nolan, ist ein Actionspektakel, das die ganz grosse Leinwand verdient hat» (Sven Hauberg, Weser Kurier). Mit dem restlichen Promotionsbudget kauft Warner Brothers ein paar Fake Reviews bei IMDb und Google, sicher ist sicher.
«Aber die Schauspieler!» Elizabeth Debicki, Clémence Poésy, John David Washington, Kenneth Branagh und Robert Pattinson sind allesamt gute Schauspieler. Aber wenn sie reden wie hölzerne Figuren aus der Augsburger Puppenkiste, hilft Talent reichlich wenig. In der zweiten Stunde eines Drehbuchseminars lernt man, Informationen zur Story nicht direkt-dialogisch, sondern über Bilder und den Subtext zu transportieren. Aber hier sitzt man in «Tenet» und bestaunt
fassungslos die Blässe dieser Behilfs-Charaktere, die die ganze Zeit nur erklären und fachsimpeln. Während der übrigen Zeit werden humorlose One-Liner aneinandergereiht, bis man sich fragt, ob Christopher Nolan schon einmal mit einem Menschen gesprochen hat oder immer nur sich selber reden hört. «You don't have to understand it. You have to feel it»: Was Clémence Poésy in «Tenet» einmal als selbstreflexiven Kommentar über Nolans gesamtes Oeuvre meint, kann schlicht nicht eintreffen. Weil man in diesem Film sitzt und mit rein gar nichts mitfühlt – die «Menschen» in diesem Film hat man beim Gang aus dem Kino wieder vergessen.
Der namenlose Protagonist (John David Washington) mit seinem Kontakt Neil (Robert Pattinson).
Vom Mammon korrumpiert
«Er benutzt keine CGI.» CGI hin oder her, wenn die Materie nicht stimmt, spielt es keine Rolle, ob dasjenige, was man auf der Leinwand sieht, virtuell oder real ist. Einer der ersten, der das begriffen hat, ist David Fincher: Er benutzt auffällig viel CGI. Auch und besonders in Situationen, in denen es keine computergenerierten Bilder benötigen würde – in «The Girl with the Dragon Tattoo» liess er bei Rooney Mara in einer Szene eine Haarlücke (!) animieren. Fincher benutzt CGI als ein Werkzeug, Nolan das Nichtvorhandensein von CGI als ein Verkaufsargument. Wenn man Bildkomposition beherrscht, dann spielt es keine Rolle, ob etwas CGI ist oder nicht. Wer gute, handgemachte Action sehen will, schaut «Lethal Weapon» oder 1980er-Filme von Kathryn Bigelow. Wer heute noch etwas von «handgemacht» faselt, ist, wie Christopher Nolan, in der Zeit hängen geblieben. Und wer eine echte Boeing 747 in ein Haus krachen lässt, wie in «Tenet», hat für irgendetwas Kompensation nötig.
Wenn dieser Film die Rettung des Kinos sein soll, dann ist das Kino nicht mehr zu retten. Plot-Twist: Gehen Sie «Tenet» schauen. Unbedingt. Schauen Sie sich an, wie man einen Film nicht dreht, wie man Figuren nicht zeichnet, wie man ein Drehbuch nicht schreibt. Schauen Sie sich an, wie rund 400 Millionen Dollar in den Sand gesetzt wurden. Es ist ein Lehrstück darüber, wie schnöder Mammon einen ehemals kreativen Kopf («Memento») korrumpiert hat.
Heinrich Weingartner ist Co-Initiant von Kultz.ch. Er verdient sein täglich Brot an der Bourbaki-Kino-Bar in Luzern und erwartet jeden Moment eine Mail von der Geschäftsleitung. Er hofft aber, dass die Geschäftsleitung sieht, dass auch bad news good news sind.