Primetime
Julia Ducournau mixt in ihrem kühnen neuen Werk «Titane» das Serienkillermotiv mit einem Autofetisch und dem Verschwinden eines Kindes. Ein Horrorfilm, der das Gaspedal ordentlich durchtritt.
Sarah Stutte — 10/09/21, 01:01 PM
Autoliebe der extremen Sorte: In «Titane» werden PKWs zum wortwörtlichen Lustobjekt. Foto: Agora Films
Die kleine Alexia sitzt auf dem Rücksitz eines Autos und brummt Motorengeräusche. Plötzlich löst sie den Sicherheitsgurt, was ihren Vater ablenkt und dazu führt, dass er die Kontrolle über den Wagen verliert. Das Mädchen erleidet eine schwere Kopfverletzung und bekommt eine Titanplatte in den Schädel eingesetzt. Als sie aus dem Krankenhaus kommt, streichelt sie liebevoll das Auto ihrer Eltern und küsst es – der Anfang einer Liebe für PKWs, die keine Grenzen kennt.
Jahre später. Die erwachsene Alexia tritt nun als erotische Autoshow-Tänzerin in einer alten Fabrikhalle auf und windet ihren Körper lasziv auf einem Cadillac. Als ein Fan nach der Show allzu zudringlich wird, tötet sie ihn – mit einer Stricknadel, die normalerweise in ihren Haaren steckt. Sex hat sie wenig später dafür mit dem schon erwähnten Cadillac. Sie und das Auto – das mit seinen immer heftigeren Bewegungen und blinkenden Lichtern seine Lust demonstriert – wippen im Rhythmus auf und ab, bis beide zum Höhepunkt kommen.
Das bleibt nicht ohne Folgen, denn Alexia wird schwanger – und sticht, als sie das herausfindet, abermals zu. Gerade diese Szene ist nicht frei von Situationskomik, denn in einer riesigen Villa tauchen immer mehr Figuren auf, die Alexia unmöglich alle umbringen kann. Als eines ihrer Opfer entkommt, begibt sie sich auf die Flucht. Auf dem Flughafenareal sieht sie das Bild eines schon lange vermissten Jungen, der heute in ihrem Alter sein müsste, verändert ihr Aussehen radikal und wird der verschollene Adrien Legrand.
Manche Bilder hat man so noch nie auf einer Leinwand gesehen und wird sie auch nicht so schnell vergessen.
Dessen Vater Vincent, ein bulliger, stereoidabhängiger Feuerwehrkommandant, nimmt Alexia ohne zu Zögern bei sich auf. Während die Polizei ihre Suche nach der Serienmörderin intensiviert, versucht diese verzweifelt, das Geheimnis ihrer Identität aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig schreitet die groteske Schwangerschaft voran und in allem entwickelt Alexia, die Nähe zu anderen Menschen bisher nicht auszuhalten vermochte, ein Gefühl von Verbundenheit für ihren Ziehvater.
Der neue Film von Julia Ducournau, der dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme gewann, ist nicht nur nichts für zarte Gemüter, sondern auch definitiv nicht für Menschen gemacht, die im Kino nur abschalten und sich berieseln lassen möchten. «Titane» ist wirklich crazy shit und auf eine Art und Weise herausfordernd, die einem in den Magen boxt, unter die Haut geht und einen über alle Grenzen hinweg spült. Manche Bilder hat man so noch nie auf einer Leinwand gesehen und wird sie auch nicht so schnell vergessen.
Wie schon in ihrem Erstling «Raw» (auf den mit einem kurzen Auftritt von Garance Marillier angespielt wird, deren Figur hier wie dort Justine heisst), setzt sich Ducournau auch in «Titane» mit Körperlichkeit und anatomischen Qualen auseinander – ganz im Geiste des Body-Horror-Übervaters David Cronenberg und seines Autofetisch-Films «Crash» – nur noch eine Spur wilder, mutiger und schonungsloser. Der innere Schmerz von Alexia und Vincent drückt sich nicht nur in deren Gewalt- und Wutausbrüchen aus, sondern ist auch an ihren zahlreich selbstzugefügten Wunden erkennbar.
Spannend und originell ist auch Ducournaus komplexe und polymorphe Vision von Identität. Sie besetzte ihre Hauptrolle mit der nonbinären Nachwuchsdarstellerin Agathe Rousselle – die, einer Naturgewalt gleich, fulminant spielt. Darüber hinaus entlarvt sie die Feuerwache als Treibhaus männlicher Rituale, in der improvisierte Tanzpartys eine wütend unterschwellige Erotik ausstrahlen. Als Alexia dann als Adrien eine sehr weiblich anmutende Performance präsentiert, hält die Kamera in einer minutenlangen Einstellung die Unsicherheit der jungen Männer fest, die gleichzeitig fasziniert und betreten sind von dem, was sie sehen.
Titanplatte im Kopf und eine gefährliche Nadel in den Haaren: Mit der Hauptprotagonistin sollte man sich nicht anlegen. Foto: Agora Films
«Titane» ist zweifellos ein wilder Ritt, aber auch ein Film, der viel Zwischenraum lässt für eigene Gedanken. Über Liebe und Verlust, über die Suche danach, sich jemandem zugehörig zu fühlen, über eigene Wahrheiten, an die man bedingungslos glaubt sowie Gefühlen, denen man leidenschaftlich folgt und für die man alles zu geben bereit ist.