Seit Jahrzehnten sterben der Stadt Luzern die Kinos weg. Warum das so ist und mit welchen Problemen die Überlebenden zu kämpfen haben.
Ramon Juchli — 10/20/20, 08:11 AM
Im Seuchenjahr 2020 erlebt das Kinogeschäft einen gewaltigen Einbruch.
Die Stadtluzerner Kinos verkauften bisher 53 Prozent weniger Tickets
als im gleichen Zeitraum letztes Jahr, 74’000 Besucherinnen und
Besucher blieben aus. Gesamtschweizerisch liegen die Verkäufe gar 60
Prozent unter dem Vorjahresergebnis. Das zeigen Zahlen des
Schweizerischen Verbands für Kino und Filmverleih Procinema.
Totgesagt ist das Kino schon lange – stirbt es 2020?
Die langanhaltende Krise spitzt sich zu. Seit Jahrzehnten leidet die
Stadt Luzern am Kinosterben. Die Liste der verschwundenen Säle ist
lang: Apollo, Rex, ABC, Madeleine, Piccolo, Broadway, Limelight,
Atelier. Wo früher Filme gezeigt wurde, sind heute Nachtclubs,
Kochschulen oder Schuhgeschäfte eingemietet. Lediglich vier Kinos
auf städtischem Boden haben überlebt. Das Bourbaki und Stattkino am
Löwenplatz. Das Capitol an der Zentralstrasse und das Moderne an der
Pilatusstrasse.
Harter Konkurrenzkampf
Durch technische Erneuerungen hat die heimische Stube den Kinosaal
fortlaufend abgelöst: Zuerst durch VHS-Kassetten, dann DVDs,
Blue-Rays und Video-on-Demand, heute durch Streamingdienste. Doch die
digitalen Heimangebote sind für das Kino nicht die einzige
Konkurrenz, sagt Procinema-Generalsekretär René Gerber. Auch
weitere Freizeitangebote seien in den letzten Jahrzehnten stark
gewachsen.
Gerber nennt etwa Bars, Clubs, Theater und Konzerte als Konkurrenzangebote:
«Alle buhlen um die gleichen Leute.» Deswegen müssten die Betriebe
ihre Kinos zu Treffpunkten machen.Aber: «Das Wichtigste im Kino ist
immer noch der Film.»
René Gerber, Generalsekretär Procinema
Nur Bond kann retten
Das Luzerner Kinoprogramm wird grösstenteils von Zürcher Unternehmen
gelenkt. Das Bourbaki gehört zur Neugass AG, Capitol und Moderne
werden von der Swisscom-Tochter Blue Cinema betrieben, die Ende
September den alten Namen Kitag AG abgelegt hat. Nur das Stattkino
ist noch in einheimischer Hand. Eines haben die Betreiber aber
gemeinsam. Sie alle mussten am 16. März coronabedingt schliessen.
Die Einnahmen der Frühlingssaison fielen weg. Die Wiedereröffnung
am 11. Juni kam später als erwartet und fiel mitten in den Sommer,
wenn die Publikumsströme für gewöhnlich ausbleiben.
Dazu kam das Problem mit Hollywood. Weil Corona das Herzen der
US-Filmindustrie lahmlegte, verzögerte sich die Fertigstellung
vieler Blockbuster-Filme. Den Kinos entgehen dadurch bitter nötige
Kassenschlager. Erst im April nächsten Jahres läuft mit dem neuen
James-Bond-Film «No Time To Die» ein garantierter Strassenfeger an.
007-Neuerscheinungen hatten bisher immer positiven Einfluss auf die
Ticketverkäufe in der Schweiz.
Geld oder Anspruch?
Bis dahin hat es sich ein anderer Film zum Ziel gesetzt, die Krise der
westlichen Kinowelt zu beenden. Am 26. August kam «Tenet» von
Christopher Nolan auf die Leinwand (hier geht
es zur Kritik). Der Streifen dürfte zwar nicht die gleiche
Anziehungskraft wie ein James Bond haben, könnte für einige Kinos
aber für Schadensbegrenzung sorgen. Das Problem dabei: «Tenet» ist
ein Fall für die Multiplex-Kinos, die grossen Unterhaltungszentren.
Kinos mit alternativem Anspruch stellt sich also die Frage, ob man an
diesem festhalten will oder sich von willkommenen Einnahmen locken
lässt.
Die Neugass-Kinos haben den Film jedenfalls in ihr Programm aufgenommen.
Er läuft also auch im Bourbaki. Doch passt ein actionreicher
Agentenfilm zum Leitbild, das ein Publikumssegement
ansprechen soll, das «neben Unterhaltung auch eine geistige
Herausforderung sucht»? Neugass-Programmleiter Frank Braun gibt sich
flexibel. «Die Passform ist variabel.» Den Film zu zeigen, nennt er
ein «interessantes Experiment». Die Neugass AG wolle sich auf zwei
Seiten offen zeigen: Es soll mehr Platz geben für Nischenfilme, die
ein Szenepublikum ansprechen. Aber auch für Blockbuster, die ein
Publikumssegment anlocken, das grösser ist als die Stammkundschaft.
Frank Braun, Geschäftsführer Neugass Kino AG (Credits: Saskja Rosset)
Underdog in Bedrängnis
Das Stattkino ist das einzige Luzerner Kino, das sich konsequent den
Blockbustern verweigert. Das hat seinen Preis. Denn Kassenschlager,
auf die man zählen kann, gibt es in der Arthouse-Welt nicht. «Es
ist wesentlich schwieriger, vorherzusehen, welcher Film das Publikum
konstant anlockt», sagt Peter Leimgruber, der das Stattkino seit 20
Jahren leitet. Das bedeutet erheblichen Mehraufwand. «Man muss
wahnsinnig viel machen, damit die Leute kommen.» Leimgruber erzählt
von Telefongesprächen, von wichtigen Zusagen, von Bekannten, dank
denen er noch im letzten Moment Stiftungsgelder für einen Anlass
auftreiben konnte. Zudem wird das Stattkino von der Stadt Luzern
jährlich mit einem Beitrag von 72'000 Franken unterstützt.
Existenzängste spürt Leimgruber zurzeit nicht, er glaubt an sein
Programm und zählt auf eine treue Kundschaft. «Wir sind auf dem
richtigen Weg.»
Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Film hat für Leimgruber
einen hohen Stellenwert. «Das ist mein Leben», sagt der ehemalige
Theaterschauspieler. Mit Leidenschaft verteidigt er seinen Platz in
der lokalen Kinohierarchie. Doch er tritt als Underdog an. Selbst im
eigenen Revier kriegt er dies zu spüren. Mit Zähneknirschen hat er
vergangenen März hinnehmen müssen, dass sich das Bourbaki im
Stattkino einmietete. Das geschah nicht freiwillig. Der Kleinbetrieb
wurde von den Vermietern, der Stiftung Bourbaki Panorama, vor ein
Ultimatum gestellt: Entweder, das Bourbaki darf sich einmieten, oder
der Mietvertrag des Stattkinos wird nicht verlängert. Leimgruber
musste einlenken. Wachsen kann sein Kino auf absehbare Zeit nicht.
«Nichts hat ewig Bestand»
Das Bourbaki kann durch diese territoriale Erweiterung mindestens einen
zusätzlichen Film pro Tag zeigen. Doch wegen der pandemiebedingten
Schliessung konnte das Kino bislang kaum davon profitieren. An Braun
von der Neugass AG nagen derzeit aber keine Zukunftssorgen. Dennoch
sagt er: «Nichts hat ewig Bestand.» Momentan sieht er im
Bourbaki-Programm aber noch unausgeschöpftes Potenzial. Das Kino
soll für Familien attraktiver werden. Dafür hat das Bourbaki das
Kinderkino «Bourbakli» gegründet. Ab Oktober werden regelmässig
aktuelle und ältere Kinderfilme gezeigt: «Jim Knopf», «Yakari»,
oder «Chihiros Reise ins Zauberland». Diese Strategie fährt die
Neugass AG in den Zürcher Kinos bereits seit längerem erfolgreich.
Den vielfältigen Streamingangeboten zum Trotz: Familien gingen auch
heute noch gerne in die Kinos, versichert Procinema Generalsekretär
René Gerber. In einem anderen Segment sieht er jedoch deutliche
Probleme. Jugendliche bis 25 Jahre seien immer weniger im Publikum zu
finden. Zwar sei bei älteren Personen einen Zuwachs festzustellen,
dieser könne aber die Abwanderung der Jugend nicht kompensieren. Das
Kinopublikum wird also älter, aber vor allem kleiner. Während die
Schweizer Bevölkerung seit 1999 um gut 20 Prozent wuchs, nahmen die
jährlichen Kinobesuche um fast genauso viel ab.
Blue Cinema Moderne – coronabedingt geschlossen.
Verlegung in die Agglo
Diesem Trend versuchen die Betreiber mit einer Ausweitung ihres Angebots
entgegenzuwirken. Das Stattkino setzt auf die aktive
Auseinandersetzung mit der Filmkunst, etwa an Podiumsgesprächen. Die
Neugass-Kinos ergänzen ihre Programme mit einem Gastroangebot, das
die Publikumssegmente erweitern soll.
Auch bei Blue Cinema, zu dem das Capitol und Moderne gehören, finden
Umstrukturierungen statt. «Reines Kino zu machen ist leider oft zu
wenig», schreibt die Medienstelle auf Anfrage. Konkret bietet die
Kinobetreiberin zusätzlich Bowling, Sportbars oder Liveübertragungen
von Fussballspielen an. Die Swisscom-Tochter sieht darin das «Kino
der Zukunft».
Dieses Mischangebot könne den Schweizer Kinos unter dem Strich durchaus
helfen, meint René Gerber von Procinema. Das bisherige Modell
scheint nicht mehr rentabel. «In einigen Innenstädten ist es heute
schwierig, mit Ein- oder Zwei-Saal-Kinos zu überleben», schreibt
Blue Cinema. Ihre Unterhaltungskomplexe stehen in der Agglomeration,
etwa das Maxx-Multiplex am Seetalplatz in Emmenbrücke.
Während das Capitol am Bundesplatz mit seinen sechs Sälen aus der
Lockdown-Pause zurückgekehrt ist, scheint die Zukunft vom
Ein-Saal-Kino Moderne an der Pilatusstrasse ungewiss. Es bleibt bis
auf weiteres geschlossen, heisst es bei Blue Cinema. Man wolle
zunächst die Bestätigung weiterer Filmstarts abwarten. Es klingt
nach einem Abschied auf Raten.
Ramon Juchli stammt aus dem Luzerner Hinterland, studiert Politikwissenschaften und
arbeitet bei Radio 3fach. Kultz.ch hält er für das wahnwitzigste
Kulturprojekt seit der Salle Modulable. Nur mit grösseren
Erfolgschancen.