Die Schreibhölle
Schreiben ist die Hölle. Den besten Beweis dazu liefern die Abenteuer vom bekannten Journalisten Christoph F. Dritter Teil: In der Erzählhölle.
Christoph Fellmann — 06/01/22, 02:30 PM
Was eine Explosion alles auslösen kann, zeigt die neueste Geschichte von Christoph F. (Foto: Unsplash)
Als der bekannte Newsjournalist Christoph F., frisch aus einer Weiterbildung in Storytelling kommend, den Auftrag erhielt, über die Feuerhölle zu berichten, die an der Hauptstrasse des Dorfes Pfeiffingen eine Tankstelle und den Coiffeursalon «Hairangehensweise» zerstört hatte, trank er den Kaffee aus, packte sein Notebook in seinen Rucksack und setzte sich auf den Roller nach Pfeiffingen, wo er die Geschichte recherchieren würde.
Als er vor Ort ankam, erklärte ihm eine Polizeisprecherin den Unfallhergang: Ein Holztransporter war auf der nassen Strasse ins Schlingern gekommen. Der Auflieger mit dem Holz - bzw. ganzen Baumstämmen - scherte aus und streifte einen dastehenden Lieferwagen, worauf sich eine Halterung löste und ein fallender Baumstamm eine Tanksäule mit sich riss. Ein zufällig anwesender Kunde liess im Schreck seine Zigarette fallen, worauf sich das auslaufende Benzin entzündete und die Flammen sofort auf den ganzen Gebäudekomplex übersprangen.
Der bekannte Newsjournalist Christoph F. notierte: Unglückliche Verkettung von Ereignissen. Da beim folgenden Grossbrand niemand körperlich zu Schaden gekommen war, beschloss er, das Geschehen nur kurz zusammenzufassen und im Kurzfutter auf maximal 20 Zeilen abzuhandeln.
Als der bekannte Newsjournalist seinen Rucksack anschnallte und gerade den Roller bestieg, sprach ihn jemand an. Sie stellte sich als Maja Njallo vor und sagte, sie sei die Lastwagenfahrerin. Christoph F. wollte sie abwimmeln, aber da hatte die Lastwagenfahrerin schon begonnen, ihre Geschichte zu erzählen. Ob es für die Öffentlichkeit denn nicht interessant sei, aus was für einem Grund ihr Lastwagen ins Schlingern geraten sei, fragte sie, und der bekannte Newsjournalist log, doch, das sei natürlich schon interessant.
Sage ich doch, sagte die Lastwagenfahrerin, dass mein Lastwagen nicht einfach so ins Schlingern kommt. Sie zeigte auf einen Balkon im gegenüberliegenden Haus, auf dem ein junger Mann stand und hinunterschaute, auf seinen Armen trug er ein Kleinkind. Der da, sagte der Lastwagenfahrer, der da ist mir vor den Lastwagen gelaufen.
Das stimme schon, sagte Andrian N., als der bekannte Newsjournalist ihn befragte, er habe noch einen Kiesel aus seinem Schuh entfernt, drüben am Ausgang des Friedhofs, und sei dann vielleicht etwas achtlos losgelaufen, habe aber gleich das Hupen des Lastwagens gehört und gestoppt. Er sei noch nicht einmal auf der Strasse gestanden, als der Lastwagen vorbeigefahren sei.
Was er denn auf dem Friedhof gemacht habe, fragte Christoph F., nun interessiert an der ganzen Geschichte, und der Mann erzählte vom alten Birkmeier, der jeden Abend auf dem Friedhof für seine verstorbene Frau auf dem Es-Horn spiele, und das tue ihm ja leid, aber das gehe trotzdem nicht, dass der so viele Monate nach dem Tod der Frau immer noch jeden Abend und für die ganze Nachbarschaft gut hörbar eine gute Stunde lang Es-Horn spiele.
Und da sei er eben zu ihm hinüber auf den Friedhof gelaufen, um ihn zu bitten, das Spielen bitte endlich zu unterlassen, das Kind könne nicht schlafen, und er habe morgen wieder Frühschicht. Sein Ärger erkläre eventuell auch seine Unaufmerksamkeit, sagte Andrian N. noch und betonte, er wolle seinen Namen dann aber nicht in der Zeitung lesen.
Als der bekannte Newsjournalist Christoph F. beim alten Birkmeier klingelte, um die Aussage des Mannes zu verifizieren, ahnte er schon, dass er da vielleicht etwas Grossem auf der Spur war. Birkmeier bat den bekannten Newsjournalisten umstandslos in seine Stube. Es freute ihn sichtlich, von sich und seiner verstorbenen Frau Irma zu erzählen, die nun schon vierzehn Monate auf dem Friedhof lag.
Es sei nämlich ein tragischer Tod gewesen, das sei auf einem Spaziergang passiert, eigentlich überhaupt nichts Gefährliches, doch sei Irma auf einmal stehengeblieben und habe zu ihm gesagt: Schau mal da, diese Plastiktüte, so ein Seich. Und tatsächlich, da sei in einem Baum etwa auf zwei Metern Höhe eine knallrote Plastiktüte festgesteckt.
Normalerweise falle so etwas seiner Frau kaum auf, es liege ja leider ziemlich viel Müll im Wald, erzählte der alte Birkmeier. Allerdings sei auf dieser roten Plastiktüte so ein Turnschuh aufgedruckt gewesen und aus dem Turnschuh heraus habe eine Sprechblase gesagt: I am what I am. Und diese Worte hätten Irma nun sehr aufgebracht, sagte Birkmeier, und die seien ja auch wirklich zu dämlich, und darum sei seine Frau weg vom Fussweg, um die Tüte und ihren schreienden Egoismus aus dem Baum zu entfernen, dabei sei sie allerdings gestolpert und in das Bachtobel gestürzt.
Dabei hätten sie am Abend doch ins Konzert gehen wollen: Das Horn-Konzert in Es-Dur von Johann Baptist Georg Neruda. Der bekannte Newsjournalist verabschiedete sich vom alten Birkmeier und rief die Redaktion an. Er brauche mehr Platz, er sei da an etwas Grossem dran, und ebenfalls etwas mehr Zeit. Die Redaktion druckte die Polizeimeldung ab, und Christoph F. flog am nächsten Tag nach Boston an den Hauptsitz von Reebok, um dort mehr über den fatalen Werbeslogan herauszufinden - er wollte die Geschichte des Tankstellenbrandes nun richtig und umfassend auserzählen.
In Boston erklärte ihm Quentin O' T00le, Chef der Werbeabteilung von Reebok, wie er gemeinsam mit den Profis der Agentur den Slogan entwickelt habe: Er habe am Abend zuvor eine Vorstellung des Musicals «La cage aux folles» besucht, und dessen berühmte Schlussnummer sei ja eben «I Am What I Am», und sie bestärke die Menschen darin, unabhängig beispielsweise von der Hautfarbe oder der sexuellen Identität ihr Leben so zu führen, wie es für sie stimme, mit anderen Worten eben sich selbst zu sein. Und diese positive Botschaft passe ganz wunderbar zur Marke Reebok.
Menschen, die unsere Produkte kaufen, fasste Quentin O' Toole zusammen, die wissen, wer sie sind. Und er bat darum, falls der bekannte Newsjournalist ihn zu zitieren gedenke, die Zitate vorab gegenchecken zu dürfen. Dieser sagte zu und fuhr in die Innenstadt von Boston, um dort die Macherinnen der mittlerweile abgespielten Produktion von «La cage aux folles» zu treffen. Auf der Fahrt dachte er darüber nach, wie aus einer emanzipatorischen Liedzeile («I am what I am») ein neoliberaler Werbeslogan hatte werden können, und er beschloss, dem bald einmal vertieft nachzugehen.
Zunächst aber reiste er weiter nach New York, um dort das Leben von Jerry Herman zu recherchieren, der das Musical geschrieben hatte. Denn ohne diese Informationen konnte seine Recherche über die Feuerhölle von Pfeiffingen unter keinen Gesichtspunkten der Objektivität als abgeschlossen betrachtet werden. Also rief er in der Redaktion an und bat um ein Sabbatical. Schliesslich hatte er mittlerweile an der US-Ostküste bereits mehr als zwanzig Interviewtermine zur Geschichte der Public Relations gefixt. Den Trailer zu seiner mehrteiligen Geschichte, die ihm nun immer klarer vor Augen lag, würde er mit dem Konzert in Es-Dur von Johann Baptist Georg Neruda unterlegen.
Als der bekannte Newsjournalist Christoph F. nach drei Jahren die Redaktion anrief, um die Umsetzung seiner Geschichte zu besprechen, wurde er mit der Chefredakteurin verbunden. Sie teilte ihm mit, dass das keine Geschichte sei.
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Dieser Artikel wurde im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.