Die Schreibhölle
Schreiben ist die Hölle. Den besten Beweis dazu liefern die Abenteuer vom bekannten Journalisten Christoph F. Erster Teil: In der Beschreibungshölle.
Christoph Fellmann — 05/18/22, 10:07 AM
Es gibt kaum etwas, das der bekannte Reportagejournalist Christoph F. noch nicht beschrieben hat. (Foto: Unsplash)
Als der bekannte Reportagejournalist Christoph F. den Auftrag erhielt, in die Hölle des Südens aufzubrechen, musste er googeln. Er hatte vieles beschrieben im Laufe seiner langen Karriere, er hatte über Tunnelarbeiter unter dem Ärmelkanal geschrieben, über die Bekämpfung von Waldbränden auf Lanzarote, über Frauen in vergessenen Konflikten in Südostasien und über Köhler im Entlebuch. Aber niemals hatte er gehört von der «Hölle des Südens».
Wie er googelnd herausfand, handelte es sich dabei um eine - wie er geschrieben hätte - sturmumtoste Gegend im südlichen Pazifik. Der bekannte Reportagejournalist sollte für das Magazin einer Sonntagszeitung über den Segler Norbert «Nöbi» Söllmi berichten, der an einem Segelwettbewerb teilnehmen und dabei ebendiese Hölle des Südens durchqueren wollte.
Also schrieb Christoph F.: Als Norbert Söllmi vor einigen Jahren beschloss, entweder seinen Job als Tramführer an den Nagel zu hängen oder sich sein Gehirn aus dem Kopf zu pusten, war er vor eine Entscheidung gestellt. Er beschloss, Hochseesegler zu werden. Allerdings konnte er sich nicht sofort seiner neuen Passion widmen. Er musste zunächst seine Frau wieder zurückerobern, die kurzerhand die Scheidung eingereicht hatte. Doch inzwischen hat er sich mit ihr wieder ausgesöhnt, die Welt auf einem acht Meter langen Segelschiff umrundet und Touristen auf Törns mitgenommen. Doch erst jetzt geht sein grosser Wunsch in Erfüllung. Er startet zur Vendée Globe, dem grössten Ereignis für Menschen, die sich mehr als drei Monate lang unvorstellbaren Strapazen, der Einsamkeit und dem Schicksal - kurzum: der Hölle - aussetzen wollen.
Danach wurde der bekannte Reportagejournalist anlässlich der Blattkritik im grossen Sitzungszimmer neu ins Archiv umbesetzt. Das hiess, dass er das Internet archivieren musste. Konkret wurden ihm vorerst 2000 Youtube-Videos zugeteilt, die er sich genau ansehen und die er detailliert beschreiben sollte, um sie anschliessend in einem Ordner abzulegen.
Beispielsweise war da folgendes Video: Ein Citroën hält an einer Tankstelle. Es steigt eine Frau aus, tankt das Auto auf und betritt den Laden, um das Benzin zu bezahlen und einige Lebensmittel zu kaufen. Jedenfalls kommt sie mit einer vollen Tüte zurück, steigt ins Auto und fährt davon. An dieser Stelle bricht das Video ab.
Der bekannte Reportagejournalist entschied sich, für seine Beschreibung mit dem Bildhintergrund anzufangen. Da liegen nämlich auf der anderen Seite der Strasse drei Wohnhäuser, und dahinter, nur noch schemenhaft und unscharf zu erkennen, ein Waldrand und eine Starkstromleitung. Er versuchte, die Unschärfe des Waldes sprachlich zu erfassen, denn es ging ja darum, das Video zu archivieren - und nicht die gefilmte Realität, die in der Vergangenheit lag und auf die der Journalist folglich nurmehr einen rein spekulativen Zugriff hätte.
Also beschrieb er das sanfte ineinander Verschwimmen der Bäume zu einem satten, aber auch leicht grauen Grün, und ging dann über zur Stromleitung, für die er sehr lange nicht die richtigen Worte fand. Er suchte nach Beschreibungen von Stromleitungen bei Peter Handke, bei Gabriel Garcìa Marquez und Raoul Schrott; aber die Recherche war fruchtlos und er musste einsehen, dass er für die Beschreibung der Videos nach eigenen, bzw. nach den genau spezifischen Worten suchen musste, welche die Videorealität exakt beschreiben.
Nach zwei Tagen hatte er die Stromleitung soweit ausbeschrieben und konnte mit den Wohnhäusern fortfahren, wobei er mit dem hintersten Satteldach begann, dessen Ziegel er detailliert beschrieb, einen Ziegel nach dem anderen, denn die Ziegel, das war sogar auf dem Video erkennbar, waren sich zwar ähnlich, unterschieden sich aber doch in kleinen Abweichungen, die es nun festzuhalten und zu beschreiben galt.
Dann arbeitete sich der bekannte Reportagejournalist langsam und entlang der Fassade nach unten auf Strassenhöhe. Erst dann überquerte er beschreibend die Strasse und ihre Schlaglöcher und konnte sich endlich der Tankstelle widmen. Er hatte sich vorgenommen, zunächst die ganze statische, unbewegliche Szenerie mit der und rund um die Tankstelle zu beschreiben; und erst dann den eigentlichen, im Video zu sehenden Vorgang: Das heranfahrende Auto.
Das war auch objektiv betrachtet eine gute Entscheidung, hatte er sich doch, als er die Arbeit am fahrenden Citroën begann, bereits einige neue Techniken zur Beschreibung angeeignet wie auch seinen Sprachschatz entsprechend erweitert. Trotzdem kostete ihn allein die Beschreibung der Bewegungen der Frau aus dem Auto heraus und in den Tankstellenshop hinein mehr als vier Wochen konzentrierte Arbeit.
Er lernte, dass die Sprache, die er bis anhin zur Beschreibung von Bewegung verwendet hatte, dass diese Sprache bruchstückhaft, unsinnig und überhaupt eine einzige Schluderei gewesen war. Also erfand Christoph F. ganz neue Wörter. Zum Beispiel ganz neue Adjektive wie frugös und elentabel.
Oder: Früher hätte er den Vorgang, wie die Frau den Riemen ihrer Handtasche zurück auf die Schulter flüppte, viel zu ungenau und hart mit «ruckte» beschrieben. Nach drei Monaten hatte er es geschafft: Die Archivierung des 126-sekündigen Videos war abgeschlossen. Sie umfasste rund 800'000 Zeichen (inkl. Leerzeichen). Dann nahm der bekannte Reportagejournalist das zweite Video in Angriff, die 17-sekündige, ziemlich verwackelte Aufnahme eines Schusswechsels im Bürgerkrieg in Jemen.
Nach 18 Jahren im Archiv wurde der Reportagejournalist versetzt. Nochmal schickte man ihn «auf die Piste»: Er sollte Norbert Söllmi auf dessen letzter Vendée Globe durch die Hölle des Südens begleiten und darüber einen Blog schreiben. Er schrieb 129'599'778'308 Zeichen (inkl. Leerzeichen). Nie wurden unvorstellbare Strapazen so strapaziös, aber auch anschaulich beschrieben.
Weil Lesen viel einfacher als Schreiben ist.
Dieser Artikel wurde im Rahmen im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.