Verpönte Küche
Wer kein Hirn isst, dem sollte das Recht auf Fleischkonsum entzogen werden, meint Sylvan Müller. Er macht sich in der Zentralschweiz auf die Suche nach verpönter Küche. Teil 1: Der Magen.
Sylvan Müller — 03/30/22, 07:18 AM
Kutteln: Für manche eine Delikatesse, für viele ein Graus. Zu Unrecht, meint unser Autor. (Foto: Sylvan Müller)
Als ich klein war, kamen bei uns Kutteln ganz selbstverständlich auf den Teller. Die Interpretation der Tessiner Kuttelsuppe Büséca meiner Mutter war bei uns so beliebt, dass sich mein Bruder das Gericht sogar zum Geburtstag wünschte. Irgendwann verschwand es vom Speiseplan. Es verschwand mit dem letzten kleinen Metzger im Dorf. Meine Mutter hätte es sich nicht vorstellen können, den Rindermagen beim Grossverteiler zu suchen. Abgesehen davon, dass sie weder Coop noch Migros die gewünschte Qualität zugetraut hatte, wäre sie wohl sowieso am fehlenden Angebot gescheitert. Das hat sich bis heute kaum verändert.
Würde man an der Fleischtheke eines Supermarktes mit den dort erhältlichen Fleischteilen versuchen, ein Tier zusammenzustellen, ergäbe sich ein ziemlich unvollständiges Wesen: Die klaffenden Löcher im Tier zeigen deutlich Ernährungstabus und unsere absurd eingeschränkte Wahrnehmung der Natur beim Fleischkonsum.
Eine eklige Angelegenheit
Die inneren Organe der Tiere vermisst man in der gemeinen Auslage des Metzgers fast gänzlich. Ganz selten ist da vielleicht eine Leber zu finden, bei den ganz mutigen Fleischern mal eine Niere oder ein Herz, manchmal auch noch die Milke. Kutteln fehlen mit allergrösster Wahrscheinlichkeit. Füttert man eine Suchmaschine mit den Namen der verschiedenen Magenteile wie «Pansen» oder «Blättermagen», erntet man in erster Linie Resultate zum Thema Hundefutter.
Die Nachfrage der Konsumenten scheint klein und wie bei den meisten Innereien überwiegt der Ekel, was bei Kutteln einigermassen einfach zu erklären ist: Ekel gehört laut psychoevolutionärer Emotionstheorie zu den acht primären Emotionen des Menschen und hat unter anderem wohl die Funktion, uns vor verdorbener Nahrung fernzuhalten. Und weder der Magen noch die Verdauungsorgane lösen bei den meisten Menschen kulinarische Gelüste aus.
Der deutsche Gastro-Papst Wolfram Siebeck hat dieses Phänomen einmal sehr treffend zusammengefasst:
«Es liegt also nicht nur an gastronomischen Unfällen, wenn jemand vorgibt, allergisch auf Innereien zu sein. Es sind irrationale Aversionen dabei im Spiel. Sie sind ein verlässlicher Bestandteil unseres Nationalcharakters. Ob es sich um muslimische Einwanderer, um Schwule oder um gefüllten Saumagen handelt, der deutsche Esser weiss, wovor er sich fürchtet.»
Wolfram Siebeck, Gastronomiekritiker
Der Verarbeitungsprozess der Kutteln, vor allem deren Reinigung, ist eine recht unappetitliche, mit sehr strengen Gerüchen verbundene Angelegenheit. Für diese Tätigkeit gab es sogar einen eigenen Berufstand – Flecksieder, Kuttler oder Kaldaunenkocher genannt – die ihrer emissionsreichen Tätigkeit, genau wie die Gerber, verbannt von allen Anderen am Dorfrand nachgehen mussten. Daher auch die Redensart «jemandem die Kutteln waschen» sinnähnlich für eine äusserst unangenehme Handlung. Kutteln wurden an den Studentenfreitischen der Klöster unentgeltlich serviert, wo im Allgemeinen Gerichte aus den billigsten Zutaten, und eben vor allem aus allen essbaren Eingeweiden zubereitet wurden. Als Ausgangslage für eine angehende Delikatesse scheint das alles eher dürftig, nichts für Gourmets also, diese Kutteln.
Werner Tobler empfiehlt Kutteln auch, weil sie weder Fett noch Cholesterin enthalten. (Foto: Sylvan Müller)
Werner Tobler sieht das anders. Der Kochgott aus Hildisrieden ist ein glühender Verehrer aller Innereien, im Speziellen der Kutteln. Sein Lieblingsteil des Magens ist der Blättermagen mit seinen zarten Lamellen. Abscheu gegenüber der Innerei begegnet er mit Unverständnis: «Da haben alle Angst vor Kutteln, aber Würste in Därmen fressen sie.» Vielleicht braucht es beim Essen von Innereien für manche Stützräder. Toblers Hilfe sieht so aus: «Serviere ich ein Gericht mit Kutteln, Morcheln und Spargeln, geht nichts. Stehen jedoch Spargeln, Morcheln und Kutteln auf der Karte, ist in Kürze alles weg.»
Überzeugender als alle Überredungstricks in schriftlicher Form sind Werner Toblers Kuttelgerichte: Kutteln an einer leichten Tomatensauce mit Kümmel und Bohnen, Kutteln in einer Bouillabaisse oder an einer Champagnersauce, oder eben im Frühling mit Morcheln und Spargeln. Dieses Gericht gibt’s bei Werner Tobler im Bacchus sogar als Quiche. Als leidenschaftlicher Kämpfer für die verpönte Küche ist Tobler der wichtigste Innerschweizer Überzeugungstäter. Bei Kutteln zeige sich das wahre Wesen des Gastes, meint er. Das sei manchmal ganz nützlich, weil Menschen mit Vorurteilen möge er sowieso nicht. Ausserdem würde allen Edelstückfleischfresser*innen zwischendurch eine Portion Kutteln ganz gut tun: Kein Fett und kein Cholesterin! Das probiert man am besten gleich selber aus:
- 1 Butter-Blätterteig, rund ausgewallt
- 300 g Rinds- oder Kalbskutteln gekocht, in Streifen geschnitten
- 100 g frische Morcheln, blanchiert und gut ausgedrückt
- 1 EL Butter
- 1 Zwiebel, fein geschnitten
- 1 Bund Frühlingszwiebeln, grob geschnitten (den grünen Teil für die Garnitur aufbewahren)
- 1 dl Weisswein
- 2 dl Rahm oder Crème fraîche
- 2 Eier
- Salz und Pfeffer aus der Mühle
Backofen auf 200° vorheizen. Die Butter in einer Bratpfanne aufschäumen lassen. Die Zwiebel und die Morcheln beigeben und glasig dünsten, dann die grob geschnittene Frühlingszwiebel dazugeben und kurz schwenken. Mit Weisswein ablöschen und kurz einreduzieren. Alles auskühlen lassen. Eier und Rahm gut verrühren und mit Salz, Piment/Peperoncino und etwas Muskatnuss abschmecken. Alles vermischen und auf dem Blätterteig verteilen. Bei Umluft (200°) 25 bis 30 Minuten goldbraun backen. Im Frühling können auch etwas blanchierte Spargeln zur Masse gegeben werden, im Sommer ein paar Eierschwämmli und im Herbst kurz angebratene Steinpilze. Zur Quiche wird ein Salat serviert. Und wer’s nicht mag, lässt halt die Kutteln weg …
Grossartige Kutteln gibt’s bei der Metzgerei Giger in Entlebuch. Montags wird geschlachtet, dienstags gibt’s frische Kutteln. 041 480 13 14. Werner Tobler kocht für sich und alle, die gerne essen, im Bacchus in Hildisrieden. 041 530 00 30. |
Sylvan Müller fotografiert, schreibt, macht Wein, backt Brot, importiert Austern und teilt seine Leidenschaft für grossartige Lebensmittel in der Jazzkantine Luzern. Dieser Artikel wurde im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.