Mit «Ad Nauseam» liefert das Kollektiv Die Seilschaft beste Argumente für die Systemrelevanz des Theaters.
Heinrich Weingartner — 10/19/20, 06:48 AM
Geschlossene Bar, abstandsbedingte Leersitze, Maskenpflicht: Ein Besuch im Luzerner Kleintheater ist zurzeit mit einigen Restriktionen verbunden. Mit «Ad Nauseam» holt sich die freie Theaterszene ein wenig Freiheit zurück. Das Luzern-Bern-Berlinerische Kollektiv Die Seilschaft diskutiert in Überlänge das Klima, Corona und noch viel mehr bis zum Überdruss: Ad Nauseam. Bewusst im Kreis drehend, wild umher springend und trotzdem in dramaturgischer Vollendung.
Fünf namenlose Bekannte – Mahalia Slisch, Stefan Schönholzer, Mira Wickert, Lion-Russell Baumann, Maximilian Grünewald – fangen zahm an. Im romantischen, ersten Lockdown flirten sie miteinander, tauschen Spässe aus und diskutieren, wie es sich am besten zuhause aushält. Relativ rasch wird's ungemütlich: Jobverlust, Geisteskrankheit, Isolation. Der rasante Text von Anna Sutter wechselt problemlos von Jugendslang über Management-Sprech bis hin zu schwurbeligen, mit erfundenen Fremdwörtern bestückten Pseudodiskussionen.
Das Ensemble von «Ad Nauseam» redet die Welt kurz und klein, von humorvoll bis ernsthaft.
Lachen und Weinen
Also, ziemlich ernsthaft, oder? Nein. Wenn Lion-Russell Baumann in stoischer Ausführlichkeit erklärt, weshalb er sich ernsthaft überlegt, einer lokalen Pizzeria eine schlechte Bewertung zu geben oder wenn Maximilian Grünewald die Schaumstoff-Bühnenelemente, mit denen die Bühne des Kleintheaters ausgelegt ist, slapstickartig umstösst, während Mahalia Slisch und Mira Wickert erklären, wieviel CO2 der Mensch ausstösst, bebt das Kleintheater – vom Lachen hinter den Maskengesichtern. Dann noch: «Nieder mit dem Klima, nieder mit Marco Rima!» Ja, auch platt darf sein.
Das heutige Stück handelt auch von der schwierigen Frage, die das Publikum dem Theater nach Corona noch eindringlicher stellt: Weshalb eine Theaterveranstaltung besuchen, wenn man die x-te Reiteration einer vom Freundes-Algorithmus empfohlenen Netflix-Serie gucken kann? Die Antwort der Seilschaft: Das Theater zu einem audiovisuellen Spektakel machen, das Physis und Psyche durcheinander wirft, mal etwas von Christoph Schlingensiefs U-3000 hat und mal etwas von einem düsteren Lars-Von-Trier-Film. Es ist eine Antwort, die überzeugt.
Hoffnung adé
Der Abend ist lange, dicht und doch nicht ad nauseam. Regie und Dramaturgie (Damiàn Dlaboha und Béla Rothenbühler) gelingt es, die Überdrüssigkeit poppig zu verpacken und ein kleines Theaterepos zu machen. «Ad Nauseam» ist eine hochreflexive Verarsche der Welt und deshalb auch eine Verarsche von sich selber. Es ist episch, dann wird es kitschig. Es ist traurig, dann wird es rührselig. Es ist lustig und verkommt zum Klamauk. Natürlich wird auch das reflektiert: Jules Claude Gisler filmt alles mit einer Kamera, rechts auf der Bühne wird es auf einen Fernseher übertragen.
Die Figur von Stefan Schönholzer am Boden. Sie hat ihren Job verloren.
Vor genau einem Jahr spielte Die Seilschaft im Kleintheater ein einwöchiges Stück, an dem man als Zuschauerin oder Zuschauer sechs Stunden zuschauen durfte – den Zeitpunkt konnte man selber wählen. Damals ging es um Utopien. Das ist vorbei, weil die absolute Dystopie eingetroffen ist. «Ad Nauseam» ist frei von Hoffnung. Aber die Energie dieses zweistündigen Spiels mit Sprache und Bewegung unterhält vorzüglich. Und endet: schwarz. Fünf Minuten lang sitzen wir im Dunkeln. Niemand klatscht. Ist alles fertig? Niemand weiss, wie es weitergeht. Nicht einmal die Seilschaft, die heute Abend kluges Theater gemacht hat.
Heinrich Weingartner ist Co-Initiant von Kultz.ch. Er schreibt Theaterkritiken, wenn es sein dichter Zeitplan erlaubt.