Düster, morbide, erfolgreich
Die Brunner Autorin erfindet merkwürdige Geschichten, die ihr zuletzt den Schweizer Buchpreis verschafft haben. Wir haben sie in Brunnen besucht, um herauszufinden, was in ihrem Kopf vor sich geht.
Martin Erdmann — 02/23/22, 10:37 AM
Sie ist mehrfach preisgekrönt, aber steht lieber fernab des Rampenlichts: Martina Clavadetscher. (Foto: Ayse Yavas)
2. September, 1998. Der Swissair-Flug 111 von New York nach Genf erleidet einen Kabelbrand. Um 1.31 Uhr stürzt die Maschine in der Nähe von Halifax in den Atlantik. 229 Menschen sterben. Am Morgen danach steht Martina Clavadetscher in der McDonald’s-Filiale in Goldau. Neueröffnung. Sie berichtet als Praktikantin für die Schwyzer Zeitung darüber. Statt über Fastfood wird aber viel mehr über das schlimmste Unglück der Schweizer Aviatikgeschichte geredet.
An einem Donnerstagvormittag rund 24 Jahre später erzählt Clavadetscher an ihrem Wohnzimmertisch von diesem Erlebnis. Es zeigt, wie geeicht ihr Gedächtnis auf Dinge ist, die abseits des Alltäglichen liegen. Dinge aus der Welt der Absonderlichkeiten, des Grusels, der Düsternis. Begebenheiten, wie sie in vielen von Clavadetschers Texten anzutreffen sind.
Ungewöhnliches geschieht auch in ihrem Wohnort. Brunnen putzt sich für die Fasnacht heraus. Farbige Fähnchen hängen über der Strasse, die durch den Ortskern führt. Darunter herrscht an manchen Stellen Dunkelheit. Leere Läden, geschlossene Restaurants. Gleichzeitig werden neue Wohnhäuser aus dem Boden gestampft. Die Mietpreise schiessen in die Höhe. Die Gentrifizierung geht um.
«Brunnen hat sich in den letzten Jahren stark verändert», sagt Clavadetscher. Ganz wegziehen will sie aber nicht. Hier ist sie aufgewachsen, hier will sie bleiben - wenigstens mit einem Standbein. Literarisch scheint Brunnen ein guter Nährboden zu sein. Ihr neuestes Werk «Die Erfindung des Ungehorsams» wurde 2021 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Eine Geschichte voller dunkler Ecken und beängstigenden Gedanken. Dabei wirkt diese Frau, die im lichtdurchfluteten Wohnzimmer Tee ausschenkt, nicht sonderlich finster. Wer ist eigentlich Martina Clavadetscher?
Im Schaurigen verwurzelt
In einem Schulzimmer Mitte der 80er-Jahre. Eigentlich wollte sie Frau Märchys Hand nichts Böses. Dass sie mit dem Locher einen Finger ihrer Primarschullehrerin erwischte, war ein Versehen. So wurde die Entstehungsgeschichte von Clavadetschers erstem Buch von einem schmerzlichen Missgeschick begleitet. Das Werk erschien in einer Kleinstauflage. Bestellstatus: Längst vergriffen. Nur Clavadetschers Klassenkamerad*innen wurden beliefert.
Die Geschichte handelte von zwei Schneeflocken, die vom Himmel fielen und einen Tag auf der Erde verbracht haben, bevor sie geschmolzen sind. Etwas viel Vergänglichkeit für ein so junges Publikum? «Schon da hat sich wohl meine Vorliebe für das Morbide bemerkbar gemacht», sagt Clavadetscher. «Aber es ist auch einfach eine Realität. Schneeflocken schmelzen.»
«Ich las Vampirgeschichten, lange bevor sie in waren.»
Clavadetscher wuchs in einer Welt voller Geschichten auf. Ihr Vater, der schreibende Journalist. Ihre Mutter, die lesende Hotelfachfrau. «Das geschriebene Wort hatte bei uns eine enorm hohe Bedeutung.» Sie las sich durch Kinderklassiker von Astrid Lindgren und Otfried Preussler, aber blieb auch oft an Grusel- und Gespenstergeschichten hängen. «Ich las Vampirgeschichten, lange bevor sie in waren.» Dieser Hang zum Schaurigen hat also tiefe Wurzeln. «Das hat mich schon immer interessiert. Aber ich merke eigentlich erst jetzt, dass das einen grossen Einfluss auf mein Schreiben hat.»
Ausserhalb der Bubble
Zurück am Wohnzimmertisch. Clavadetscher muss bald auf den Zug. Alle zwei Stunden gibt es eine Direktverbindung von Brunnen nach Zürich. Diese Strecke fährt sie momentan oft. In Zürich ist ihr Verlag zuhause. Es gibt viel zu tun. Noch in diesem Jahr soll ihr dritter Roman erscheinen. Wäre Zürich denn nicht ein standesgemässerer Wohnort für eine gefragte Schriftstellerin? Clavadetscher winkt ab. «Ich könnte nie in Zürich wohnen.»
Ihre Bücher lassen es kaum vermuten, aber Martina Clavadetscher kann auch lachen. (Foto: Janine Schranz)
Sie zieht das gemächlich schlagende Herz der Urschweiz dem kühlen, unentspannten Zürich vor. Für sie ist diese Abkapselung kein bewusster Entscheid, sondern meistens Normalzustand. «Ich kenne nichts anderes.» Mit dieser Abschottung will sie aber keinesfalls Reibungspunkten ausweichen, sondern vielmehr auf solche stossen. «Wenn ich ständig in Berliner Künstlerkreisen verkehren würde, wäre das vielleicht wahnsinnig langweilig.»
Sie scheut das Homogene, braucht die Konfrontation. «Manchmal muss man sich einfach aufregen, damit man arbeiten kann.» Im Kanton Schwyz gelingt ihr das bestens. Clavadetscher erzählt von konservativem Gedankengut, veraltetem Familienbild, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus und hitzigen Beizen-Begegnungen, in denen sie gelernt hat, ihren Standpunkt zu verteidigen, aber auch dem Gegenüber zuzuhören. Diese Ausflüge aus der eigenen Bubble geben ihr Antrieb, den sie in ihrer Komfortzone nicht finden würde. «Hier lebt die Vielfalt anders zusammen, hier treffe ich auch auf Automechaniker und Schreiner. So bekomme ich Einblicke in andere Lebensrealitäten.»
Zweifel statt Arroganz
Andere verlieren mit dem Erwachsenwerden ihre Liebe zu Geschichten. Clavadetscher hat diese Liebe zum Beruf gemacht. Dabei hat ein Ereignis während ihrer Zeit als Studentin an der Universität Fribourg eine ausschlaggebende Rolle gespielt. 2004 wurde eine Textsammlung von ihr mit dem universitären Literaturpreis ausgezeichnet. Das änderte etwas in ihr. Was vorher kaum möglich schien, wirkte plötzlich realitätsnahe. «Der Preis war eine wahnsinnige Bestätigung. Jemand hat sich das alles durchgelesen und fand es gut.»
Die Auszeichnung wurde zum Türöffner. So blieb es bei ihrem anschliessendem Praktikum am Luzerner Theater nicht nur bei Laminierarbeiten. Durch den Preis wurde man auf ihre schreiberischen Fähigkeiten aufmerksam. Ein Jahr später wurden erste Texte von ihr aufgeführt. In der Spielzeit 2013/14 war sie bereits Hausautorin, gleichzeitig erschien ihr Prosadebüt «Sammler». Zwei Jahre später folgte «Knochenlieder». Ihre Theaterstücke wurden von Zürich bis Hamburg aufgeführt.
«Ich habe viele Selbstzweifel, eigentlich viel zu viele.»
Ihr Schaffen wurde mit Preisen im In- und Ausland überhäuft und der deutschsprachige Feuilleton schien eine Übereinkunft getroffen zu haben, nur Gutes über Clavadetscher zu schreiben. Arrogante Wesenszüge sind bei ihr deswegen jedoch keine auszumachen. Ihre allgemeine Befindlichkeit ihrer Werke gegenüber schlägt in entgegengesetzte Richtung.
«Ich habe viele Selbstzweifel, eigentlich viel zu viele», sagt sie. Ein Gefühl, das bei ihr momentan Hochkonjunktur hat. Gerade hat sie den Text zu ihrem neuesten Buch fertig geschrieben. Bald wird sie von ihrer Lektorin ein Dokument voller Änderungsvorschlägen zugeschickt bekommen. «Wenn ich solche Dateien öffne, möchte ich im ersten Moment sterben.»
Abseits des Rampenlichts
Eigentlich hätte Clavadetscher das Gespräch für diesen Text lieber nicht in ihrer Wohnung abhalten wollen. Auch fotografieren lassen wollte sie sich nicht. Nicht aus Unhöflichkeit oder versteckten Allüren. Viel mehr aus einem Wunsch nach Abgeschiedenheit. «Ich habe einen seltsamen Beruf. Er ist sehr einsam.» Es ist jedoch eine selbstbestimmte Einsamkeit. Deshalb findet sie es komisch, wenn sie, die gerne alleine ist, ins Rampenlicht gestellt wird.
Ihr neuestes Buch soll noch in diesem Jahr erscheinen. (Foto: Ayse Yavas)
Im hinteren Teil ihres Wohnzimmer stehen Vinyl-Platten im Regal. Weiter vorne ist das Keyboard ihres Sohnes aufgebaut. Auch in ihren Büchern spielt Musik und Rhythmus eine wichtige Rolle. Deshalb die letzte Frage: Welche Band liefert den passenden Soundtrack zu einem typischen Clavadetscher-Text? «The Doors. Die haben dieses Magische, Unheimliche, Düstere, Poetische.» Sie sagt das mit einem warmen Lächeln.
«Die Predigt» mit Martina Clavadetscher Am 27. Februar spricht Martina Clavadetscher an unserem Sonntagsformat «Die Predigt». Als wäre das nicht genug, sorgt Ausnahmegitarrist Manuel Troller für die musikalische Untermalung. Hier kannst du dir einen Platz reservieren. |