Les Yeux Sans Visage
Les Yeux Sans Visage steht seit 15 Jahren für minimalistische Qualitätsarbeit. Wir haben die Band vor ihrer Plattentaufe im Proberaum besucht.
Martin Erdmann — 11/22/23, 04:07 PM
Les Yeux Sans Visage im Jahr 2023: Back. Hinten: Olivier Vogel, Remo Helfenstein. Vorne: Ismail Osman, Moritz Stettler, Dominik Bienz (v.l.n.r.) Foto: Franca Pedrazzetti
La Mancha ist das grösste Weinanbaugebiet Spaniens. Jährlich werden dort rund 100 Millionen Liter Wein produziert. Eine Flasche davon wird gerade von Olivier Vogel entkorkt. Das löst bei Moritz Stettler Skepsis aus. «Ich muss mich immer noch daran gewöhnen, dass man an der Bandprobe Wein trinkt.» Vor ihm steht der Bandraumklassiker schlechthin auf dem Tisch: Das Dosenbier.
Es ist Mittwochabend und die fünf Mitglieder von Les Yeux Sans Visage sind gerade in ihrem grossflächigen Proberaum in den Tiefen des Krienser Schappe-Centers eingetroffen.
Ranzige Auswüchse des Musikerdaseins treffen auf kosmopolitischen Chic einer Loftwohnung. Ein stattliches Arsenal übervoller Müllsäcke stapelt sich neben der Eingangstür. Im Rauminneren sind Perserteppiche ausgelegt, auf denen allerlei Musikgeräte stehen, die bei Kennern wertschätzendes Nicken auslösen.
Schöner proben: Das Bandraum-Decor von Les Yeux Sans Visage. (Foto: zvg)
Doch zurück zum Wesentlichen: Wie tief ist der Bier-Wein-Graben, der die Band zu spalten scheint? Remo Helfenstein wählt diplomatische Worte: «Wir vereinen das Beste aus beiden Welten.» In dieser Getränkephilosophie lässt sich gleichzeitig die Essenz dieser Band erkennen: Ein radikales Weglassen jeglicher Dinge, die nicht die ästhetischen Anforderungen erfüllen.
Es ist ein Grundsatz, der sich bei Les Yeux Sans Visage längst nicht nur auf die Musik bezieht. Die 15-jährige Bandgeschichte ist durchwoben vom Drang, sich zeitgeistigen Trends zu widersetzen, von der Jagd nach dem perfekten Klang und vom Verlangen, füreinander da zu sein.
Auf ihrem zweiten Album, das diesen Samstag im Luzerner Neubad getauft wird, finden all diese Dinge zusammen. Der Weg dahin war jedoch ein sonderbares Abenteuer.
Die Ur-Formation: Dominic Deville, Remo Helfenstein und Ismail Osman. (Foto: zvg)
Es war 2008 und Ismail Osman, Remo Helfenstein und Dominic Deville hatten es eilig. Lange bevor Deville über die Stand-Up-Bühnen dieses Landes zum SRF-Chefsatiriker wurde, gründeten sie Les Yeux Sans Visage und peitschten die Band voran. So haben sie nach ersten Konzerten innerhalb weniger Wochen gleich zwei Vinyl-Singles aufgenommen. Beide fanden Anklang. Jedoch an einem Ort, mit dem niemand gerechnet hatte: In der Gothic-Szene.
Das Interesse dieser düsteren Subkultur an der Luzerner Band gipfelte darin, dass Les Yeux Sans Visage 2012 am Wave-Gotik-Treffen in Leipzig spielte. Für die Mitglieder wirkt das rückblickend surreal. «Diese Goth-Abende waren völlig abgefahren. Wir hatten keine Berührungspunkte mit dieser Szene und ich erlebte diese Partys wie durch ein Schaufenster hindurch», sagt Remo.
Ein grosses Zugehörigkeitsgefühl entstand dabei aber nie. Ismail vermutet, dass die Band dazu einen Tick zu lebensfroh ist. «Wir hatten es an den Goth-Partys wohl auch einfach ein wenig zu lustig. In unserer Ecke wurde viel gelacht.»
Doch auch abseits der düsteren Ecken der Musiklandschaft fand die Band Anhang. Mit der Veröffentlichung ihres ersten Albums entstand um die Gruppe in Luzern ein gewisser Hype, der über das musikalische Schaffen hinausreichte. «Les Yeux Sans Visage sind drei Luzerner mit langen Beinen und schönen Schuhen», schrieb 041 – Das Kulturmagazin. Der Tages-Anzeiger gab der Band gar noch mehr Gewicht und zählte sie zu den «wichtigsten Musikexporten Luzerns».
Die Konfrontation damit löst bei der Band eine höfliche Abwehrhaltung aus. «Ich empfand uns nie als Szenelieblinge», sagt Ismail. Er fühlte sich bei Heimspielen sogar immer unwohl. «In Luzern zu spielen, bedeutete für mich immer viel Druck.» Remo glaubt zudem, dass die kleinstädtische Popularität der Band durch ein Betätigungsfeld abseits der Musik erreicht wurde. «Wir waren jung und waren die ganze Woche in irgendwelchen Bars unterwegs. Alle haben uns gekannt.»
Vielleicht sind sie zu bescheiden, um die Lorbeeren jener Tage einzustecken. Vielleicht dient diese Bescheidenheit aber auch dem Schutz vor zu hohen Erwartungen. Denn der Hype von damals ist längst verflogen. «Das ist über 10 Jahre her. Auf unser neues Album wartet niemand», sagt Remo.
Ein sicheres Indiz, dass man es in Luzern geschafft hat: Der B-Sides-Gig. (Foto: zvg)
Zurück im Proberaum unter dem Schappe-Center. Es ist kalt und die Finger sind beinahe zu klamm, um Gitarren zu bedienen. Knapp drei Wochen vor der Plattentaufe steht das Set noch nicht. Es wird an einzelnen Songs gefeilt. Die Coverversion des The-Motels-Songs «Total Control» will im ersten Durchgang nicht so recht hinhauen. Nach dem zweiten Versuch kann man sich darauf einigen, zum nächsten Song überzugehen.
Dass es Les Yeux Sans Visage heute noch gibt, ist ein kleines Wunder. Denn nach dem ersten Album war die Luft draussen. Kinder kamen auf die Welt, die Prioritäten haben sich verschoben. Dennoch wurde der damalige Bandraum im Sedel nie aufgegeben. Eines Abends trafen sich Remo und Ismail dort wieder und nahmen simple Songs auf dem Handy auf. «Wir hatten keine Hintergedanken. Es wäre auch sehr gut möglich gewesen, die Band einfach aufzulösen», sagt Ismail.
Nach vierjähriger Pause haben die beiden jedoch beschlossen, die Band zu reanimieren. Das Problem: Es fehlte an Bandmitgliedern. Dominic Deville hat die Band noch vor dem ersten Album verlassen. Dessen Ersatz, Flavio Merlo, hat sich längst in die Zürcher Kunstszene verabschiedet.
Sie verstehen sich auch privat sehr gut. (Foto: zvg)
Um ein Lebenszeichen auszusenden, hat die Band ihr Facebook-Profilbild aktualisiert. Das ging an Dominik Bienz nicht unbemerkt vorbei. «Ich dachte mir ‹Oh my God, die machen wieder Musik›», sagt der Drummer, der schon in mehreren Luzerner Formationen gespielt hat. «Ab dann habe ich begonnen, um die Stelle zu weibeln.» Im Salü am Helvetiaplatz ist man sich einig geworden.
Es folgten weitere Zuzüge aus dem Dunstkreis des alternativen Luzerner Musikschaffens. Oli Vogel übernahm den Bass und fühlte sich gleich heimisch. «Ich kenne keinen anderen Rahmen, um Musik zu machen, als in irgendeinem Kellergewölbe zusammen Sachen auszuprobieren. Das hat etwas sehr Familiäres.» Moritz Stettler, neu an der Gitarre, hat sich an diese Familientradition jedoch noch nicht gewöhnt. «Ich kenne es mehr, dass jemand mit einer sehr konkreten Idee in den Proberaum kommt.»
Trotz gewissen Startschwierigkeiten hat das Quintett schnell von den verschiedenen Herangehensweisen profitiert. Beispiel: «Wir haben bis dahin nichts über Musiktheorie gewusst. Oli hat uns dann erklärt, wie die Akkorde heissen, die wir spielen», sagt Remo.
Das Ergebnis aus der neuen Bandzusammenstellung gibt es nun auf Albumlänge zu hören. Es ist ein Werk voller inniger Geborgenheit, verworrener Wärme und anschmiegsamer Unbehaglichkeit. So ganz neu ist das Album allerdings nicht. Wegen diverser Unvorhersehbarkeiten haben die Songs bereits über drei Jahre auf dem Buckel. Zuerst kam die Pandemie, dann ging auch noch das Presswerk pleite.
Wie gross ist die Vorfreude, Lieder zu präsentieren, die man schon so lang mit sich herumschleppt? Bei Remo ist die Freude ungetrübt. Denn er ist vom Werk immer noch überzeugt. Die Songs haben für ihn dadurch gewissermassen eine Haltbarkeitsprüfung überstanden. «Das zeigt mir, dass wir uns keiner zeitgeisty Soundästhetik unterworfen haben, die inzwischen schlecht gealtert ist.»
Ismail bei Klangexperimenten im Proberaum. (Foto: zvg)
Eines ist aus dem Les-Yeux-Klangbild nicht wegzudenken: Der Hall. Woher rührt diese nicht abschwellende Faszination daran? Ismail wendet sich an seine Bandkollegen: «Wollt ihr schon einmal rausgehen? Darauf kann ich nur eine sehr lange Antwort geben.» Die Kurzversion: Es geht ihm darum, einen spezifischen Klang, den er im Kopf hat, perfekt in den Raum integrieren zu können. Dazu hat er zurzeit sieben Effektgeräte mit seiner Gitarre gekoppelt.
Aber wie gefragt sind denn traditionelle Gitarrenbands überhaupt noch? «Wenn man sich die heutigen Festival-Lineups ansieht, spielen sie eine eher kleine Rolle», sagt Moritz. Dennoch betrachtet er das herkömmliche Bandkonzept nicht als Auslaufmodell. Im Gegenteil: «Ich höre momentan von vielen Leuten, dass sie wieder einmal eine echte Band sehen wollen. Ohne crazy Lichtshow, ohne verrückte Kostüme.»
Vor 11 Jahren hat die Band ihr letztes Album im Südpol getauft. (Foto: zvg)
Der Mittwochabend neigt sich dem Ende entgegen. Der Bandraum ist zwar mit Qualitätsinstrumenten vollgestellt, dessen Herz ist jedoch der unscheinbare Holztisch im Eingangsbereich. «An diesem wurden schon manche Lebenskrisen beredet», sagt Ismail.
Für die Band ist die Probe längst kein unbedingtes Kriterium, um hier zu sein. «Manchmal kommen wir hierher und es ist scheissegal, dass wir keinen Ton Musik gespielt haben. Deshalb funktionieren wir auch so gut», sagt Dominik und reicht nach: «Das klingt jetzt sicher fürchterlich.» Remo greift ein: «Empathie ist nie fürchterlich.»