Briefe aus Marokko
Unser Marokko-Korrespondent bereist heute Tanger. Dort wandelt er auf den Spuren der Rolling Stones und lässt sich vom kosmopolitischen Schmelztiegel verschiedenster Kulturen betören.
Nikola Gvozdic — 11/01/23, 07:14 AM
Unweit vom europäischen Festland: Die marokkanische Hafenstadt Tanger. (Foto: Unsplash)
Wie jeden Tag sitze ich in einem meiner vier Lieblingscafés in Tanger und nippe vorsichtig an einem heissen Tee. Es ist irgendwann Nachmittags und ich habe nichts zu tun. In dieser Stadt folge ich jedem Tag, wohin auch immer er mich führt.
Das Café Baba ist ein heruntergekommenes Loch mit abgewetzten Stühlen, abblätternder Wandfarbe und Notorietät. Das versteckte Lokal ist bekannt für seine berühmten Gäste, die hier über die Jahre eingekehrt sind, von den Rolling Stones bis Kofi Annan.Bei den Einheimischen ist es vielleicht noch bekannter, weil hier ganz in Ruhe Kief geraucht werden kann.
Hier haben bereits verschiedene Grössen aus dem Showbusiness eingekehrt: Das Cafe Baba. (Foto: Nikola Gvozdic)
Neben mir setzt sich ein junger Mann hin und packt seine Sebsi aus. Mit eleganten Bewegungen, als ob es eine Stradivari wäre, stopft er die Pfeife und gibt sich genüsslich dem Rauchen hin. Im Hintergrund singt Manu Chao, der kurz darauf von arabischem Hip Hop abgelöst wird, während der junge Mann und ich nur schweigend dasitzen und aus dem Fenster über die Stadt blicken.
Unweit vom Café Baba befindet sich die Kasbah, von der sich eine eindrückliche Aussicht über die Strasse von Gibraltar anbietet. Eindrücklich, weil sie so trügerisch banal ist. Diese wenigen Kilometer Wasser trennen Afrika und Europa, und somit auch ganze Welten. Es ist beinahe surreal, Spanien so klar am Horizont zu sehen. Ich frage mich, von welcher Seite die Sehnsucht wohl grösser ist.
Das Innere vom Cafe Baba. (Foto: Nikola Gvozdic)
Oft spricht man von Marokko als Tor zu Afrika, was Tanger wohl zur Türschwelle machen würde. Einer der Strassendealer erklärt mir aber, dass er sich nicht als Afrikaner sähe, und auch nicht wirklich als Araber. «Wir sind Andalusier», sagt er.
Tanger ist einer jener Orte auf der Welt, von denen ich mich schon sehr lange angezogen gefühlt habe. Eine Stadt mit einer turbulenten und komplizierten Geschichte. Sie ist der Heimatort des Weltreisenden Ibn Battuta aus dem 14. Jahrhundert (salopp oft als muslimischer Marco Polo beschrieben) und gleichzeitig das Ziel von Reisenden aus der ganzen Welt.
Ein Blick über die Altstadt von Tanger. (Foto: Nikola Gvozdic)
Es ist ein Ort der Musen und Inspirationen, an den eine grosse Anzahl beeindruckender Menschen gepilgert ist. Seien es Schriftsteller, wie Paul Bowles, Jack Kerouac, William S. Burroughs, Tennessee Williams und Samuel Beckett, oder Maler, wie Henri Matisse und Eugène Delacroix und viele andere Gestalten.
Ein Teil der Identität Tangers lässt sich noch immer auf die Phase bis in die Fünfzigerjahre zurückführen, als die Stadt die Internationale Zone war und von verschiedenen Nationen gemeinsam verwaltet wurde. Damals für viele Ausgestossene, Unerwünschte und Aussenseiter ein Versprechen von Freiheit. Dieser Geist der Interzone ist auch heute noch spürbar.
Tanger ist eine Metropole, ein kosmopolitischer Schmelztiegel verschiedenster Kulturen und Sprachen. Moscheen, Synagogen und Kirchen stehen nebeneinander, Gespräche werden auf Arabisch, Französisch, Englisch und Spanisch geführt, und überall vernimmt man noch Wortfetzen anderer Sprachen.
Es ist eine mediterrane Stadt, und zugleich ist sie eine arabische und eine europäische. Tradition und Moderne scheinen hier auf Augenhöhe zu sein, Dschellabas spazieren neben Gucci-Anzügen. Man schwelgt in der Exotik der Medina und ein paar Schritte weiter ist man in einer modernen Grossstadt. Eine solche Melange kann nur inspirieren.
In den Gassen Tangers. (Foto: Nikola Gvozdic)
Beflügelt vom Kontakt-High verlasse ich das Baba und schlendere hinab durch die Gassen Tangers. Der Besitzer eines Souvenirladens versucht mich hereinzulocken. Wie immer, wenn ich an ihm vorbeigehe.
Und wie immer spielen wir unser kleines Spiel. «Kommst du heute? Ich finde sicher etwas für dich», ruft er. Ich lehne ab. «Irgendwann krieg ich dich herein, glaub mir. Ich habe ein Auge auf dein Geld geworfen», sagt er mit einem verschmitzten Lächeln. «Oh, das ist mir schon aufgefallen», antworte ich, wir lachen beide und winken uns zum Abschied zu.
Im Cafe Tingis. (Foto: Nikola Gvozdic)
Ich erreiche den Petit Socco, einen der berühmten Plätze der Stadt, und setze mich in eines meiner anderen Lieblingscafés. Mit einem starken Kaffee vertreibe ich die nebligen Gedanken und schaue dem Treiben zu.
Bis die Dunkelheit hereinbricht, beobachte ich all diese verschiedenen Menschen, deren Leben sich vielleicht nur für einen ganz kurzen Moment hier in Tanger kreuzen.
Briefe aus Marokko Unser Autor hat eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben Marokko besucht. In einer Miniserie berichtet er von seinen Eindrücken. |