Briefe aus Marokko
Unser Marokko-Korrespondent bereist das Land nach dem verheerenden Erdbeben. In Marrakesch trifft er auf eine Mischung aus Alltag und Tragik.
Nikola Gvozdic — 10/18/23, 07:51 AM
Der Markt in Marrakesch erwacht erst bei Nacht richtig zum Leben. (Foto: Unsplash)
Sanft weckt mich der anbrechende Tag an meinem ersten Morgen im Herzen Marrakeschs. Einen Moment lang bleibe ich im Bett liegen und lausche. Im Riad, also meiner Unterkunft, ist es absolut still. Keine Stimmen, keine Schritte, kein Klirren von Frühstücksgeschirr, nichts.
Es ist genau eine Woche nach dem grössten Erdbeben, das Marokko seit über hundert Jahren erschüttert hat. Fast hätte ich die Reise abgesagt, entschloss mich dann nach langem hin und her doch zu gehen. Verunsichert und ohne zu wissen, was mich dort erwartet, kam ich in Marrakesch an.
Im Riad bin ich der einzige Gast. Alle anderen hatten es nach dem Beben sofort verlassen, oder sagten die geplanten Besuche ab. Das Personal schien über meine Ankunft überrascht zu sein. Ein komisches Gefühl.
Nicht zur Nachahmung empfohlen: Schlangenbeschwörer bei der Arbeit. (Foto: Unsplash)
Als ich auf die Strasse trete und die schwere Tür hinter mir schliesse, bleibt die Stille dort zurück. Marrakesch ist pure Energie. Verkehrslärm, Stimmengewirr und Sandstaub prasseln auf mich ein. Dem Menschenstrom folgend, lande ich auf dem Djemaa el Fna, dem grossen, berühmten Hauptplatz dieser Stadt.
Blickkontakt vermeidend schlendere ich an den Schlangenbeschwörern, den Henna-Zeichnerinnen und den angeleinten Affen vorbei. Wobei ein Affe sowieso seinen Augen auf das Smartphone seines Herrchens gerichtet hat und mit ihm YouTube schaut. Selektiv mit Aufmerksamkeit umzugehen, ist etwas, was ich schnell in Marrakesch lerne, als ich durch die Souks der Medina wandere.
Zu grosse Augen, zu langes Stehenbleiben oder zu viel Neugier sind für die Verkäufer wie dicke Fische, nach denen sie nur ihre Arme auszustrecken haben, und nie wieder loslassen. Also laufe ich scheinbar zielgerichtet, aber ohne Ziel, durch die verworrenen Gassen der Altstadt. Vorbei an Passanten, Fahrrädern, Motorrädern und Eseln.
Spuren des Erdbebens sind immer noch zu sehen. (Foto: Nikola Gvozdic)
Als Fremder in einer unbekannten Stadt ist es immer schwierig einzuschätzen, was Normalzustand hier überhaupt bedeutet. Ich weiss nicht, ob eine Mauer vielleicht nicht schon immer eingerissen war, ob es Renovationsarbeiten oder Wiederaufbau ist, oder ob der Schutthaufen mitten auf dem kleinen Platz nicht schon immer eine Abfallstelle war.
Als Tourist und Touristin lassen sich die Folgen des Erdbebens sehr leicht ausblenden. Die Eindrücke, die Marrakesch bereithält, sind so vielfältig und intensiv, dass es beinahe unmöglich ist, sich nicht von ihnen betören zu lassen. Wenn man aber mit den Menschen spricht, bekommt man die Tragik zu spüren.
Rund 3000 Menschen sind beim Beben in Marokko gestorben. (Foto: Nikola Gvozdic)
Ich komme mit einem drahtigen Mann mit warmen Augen ins Gespräch. Das Haus seiner Eltern in der Medina wurde komplett zerstört, alles haben sie verloren. Er zeigt mir Fotos von der Ruine und Videoaufnahmen von Sicherheitskameras, auf denen rennende Menschen zum Zeitpunkt des Bebens zu sehen sind.
Er zeigt auf eine Frau in der panischen Masse: «Das ist meine Mutter!» Aus seiner Familie haben alle überlebt, erzählt er. «Aber ohne die hier», er schlägt sich stark auf die Oberschenkel, «wäre man einfach tot.» Sie hatten mehr Glück als viele andere. «In der Nacht des Bebens war die Stadt für einen kurzen Augenblick völlig dem Wahnsinn verfallen, komplett verrückt.» Aber man liesse sich hier nicht so leicht unterkriegen, sagt er.
Der Verkäufer an einem der unzähligen Saftstände sagt mir, er mache sich Sorgen, dass die Touristen jetzt wieder wegbleiben werden. Aber schlimm sei es noch nicht, ergänzt er, denn im Vergleich zu sonst sei es nur ein bisschen weniger. Als ich ihn frage, wie viel der Saft koste, lacht er und sagt: «Im Moment am liebsten eine Million Dollar.»
Eine Seitenstrasse in der Nähe vom Marktplatz Djemaa el Fna. (Foto: Unsplash)
Mit der untergehenden Sonne erwacht Marrakesch erst richtig zum Leben. Vor allem der Djemaa el Fna verändert sich zur Unkenntlichkeit. Essensstände werden aufgebaut, Musiker tauchen auf, die Affen tragen Puppenkostüme, Glücksspiel wird gespielt, Theater aufgeführt und Geschichten erzählt.
Ich lasse mich von der Exotik komplett berieseln. Dort, wo sich eine Gruppe Einheimischer ansammelt, gehe auch ich hin und lausche. Von einer Ansammlung lasse ich mich zur nächsten treiben. In einem Kreis stehend, höre ich lange einem Geschichtenerzähler zu, wobei ich kein Wort verstehe, und mir dennoch alles klar ist.
Am Morgen meines letzten Tages in Marrakesch öffne ich die Augen und höre Stimmen. Die Gäste kommen bereits wieder. Der Schutthaufen in der Medina wird langsam abgetragen. «Wir machen weiter», hat der drahtige Mann mit den warmen Augen zu mir gesagt. «Anders geht es nicht.»
Briefe aus Marokko Unser Autor hat eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben Marokko besucht. In einer Miniserie berichtet er von seinen Eindrücken. |