Bruch mit Stereotypen
Vom Strassenkleid an der Fasnacht bis zum Glamour-Outfit an der Drag-Show: Das Verlangen, mit Kleidungsnormen zu brechen, ist tief in der Gesellschaft verankert. Auch in Luzern.
Lisa Kwasny — 05/03/23, 12:23 PM
Sebastian Ryser alias Notre Dame hat sich als Dragqueen neu entdeckt. (Foto: Patrick Hürlimann)
Egal ob an der Fasnacht, beim Cosplay, am Mittelaltermarkt oder an der Drag-Party: Es gibt unzählige Gründe, um sich zu verkleiden. Aber worin liegt dabei der Reiz? Und warum tun wir das, seit Anbeginn der Zeit und in allen Kulturen?
«Ich bin der festen Überzeugung, dass Verkleiden ein wichtiges Ventil ist», sagt Anna Papst. Die Regisseurin hat sich vertieft mit dem Thema auseinandergesetzt. Im Luzerner Theater läuft zurzeit ihr Stück «Ich, aber anders», das sich mit verschiedenen Formen und Beweggründen des Verkleidens auseinandersetzt.
Regisseurin Anna Papst setzt sich in ihrem neuesten Werk mit Verkleidungen auseinander. (Foto: Sabrina Weniger)
Ausgehend von der Luzerner Fasnacht redete die Regisseurin Anna Papst mit 12 Personen über Verkleidungen. Vier persönliche Perspektiven fanden dabei ihren Weg auf die Bühne. Papst merkte dabei; nicht alles ist Verkleidung, was danach aussieht.
Gottfried Keller im Ohr
«Die Beweggründe, sich anders anzuziehen als im Alltag, sind für alle Personen unterschiedlich. Oft hat es aber damit zu tun, dass man den Alltagszuschreibungen entkommen will», sagt Papst.
Zuschreibungen sind grundlegend für eine funktionierende Gesellschaft, sie ermöglichen Vorhersehbarkeit und dadurch Stabilität. Kleidung spielt dabei eine grundlegende Rolle, schon immer bot sie Informationen über den Träger oder die Trägerin. Im Mittelalter hatte jeder Stand sein Gewand und wer teure Stoffe trug, musste unweigerlich reich sein.
Schon Gottfried Keller wusste: Kleider machen Leute. Was seine Novelle aber auch zeigt; sie ermöglichen eben auch die Überschreitung von Grenzen. So wie die Zuschreibung über Kleidung und Verhalten Stabilität schafft, genauso gehört es auch zur Menschheit, diese Grenzen herauszufordern und auszubrechen.
Leben wie ein Fuchs
«Teilweise ist es vielleicht sogar ein grundlegendes Bedürfnis, Grenzen überschreiten zu können», sagt Papst. Oft seien diese Grenzüberschreitungen ritualisiert und an ganz bestimmte Zeitfenster geknüpft, wie beispielsweise an der Fastnacht. Sie erlaube es den Menschen, sich ausnahmsweise non-konform zu verhalten und gleichzeitig im gesellschaftlich akzeptierten Muster zu bleiben.
Furrys können ihre Persönlichkeit anhand von Tierkostümen besser ausdrücken. (Foto: Flickr)
Während aber die Fasnacht als bürgerliches Ritual die herrschende Kultur vertritt, gäbe es auch noch andere, subversive Formen des Verwandelns und Verkleidens. Papst nennt Beispiele, welche alle Teile einer Subkultur sind. Zum Beispiel Furry.
Als Furry bezeichnen sich Menschen, die in Tierkostüme schlüpfen. Als Verkleidung sehen sie ihre tierische Hülle nicht. Sie verstehen sie eher als Ausdrucksmittel ihres Selbstbilds. Papst erklärt: «Der Furry, der im Stück zu Wort kommt, erzählte, dass er als Furry besser sein Wesen ausdrücken kann. Sein Charakter ist ein Fuchs, der verspielt und keck ist. Mit Alltagskleidung dauert es länger, bis man das erkennt.»
Kleidergrenzen verschwimmen
Im Gegensatz dazu tragen Crossdresser:innen im Alltag Kleidung, die nicht den Geschlechtsstereotypen entspricht. Diese Praxis war früher allgemein sehr politisch aufgeladen.
«Ich sehe immer mehr Männer, die mit grosser Selbstverständlichkeit Kleidung tragen, die bisher vor allem Frauen zugeschrieben wurde.»
Anna Papst, Regisseurin
Seitdem Frauen in den 1920er-Jahren anfingen, Hosen und kurze Haare zu tragen, hat eine Verschiebung stattgefunden. «Der Rock hat sich bei Männern noch nicht durchgesetzt», sagt Papst, doch sie beobachte gerade bei der jungen Generation eine starke Öffnung: «Ich gebe auch Unterricht an Schulen und sehe dort immer mehr Männer, die mit grosser Selbstverständlichkeit Kleidung tragen, die bisher vor allem Frauen zugeschrieben wurde.»
Selbstfindung im Spiegel
In die Debatte um Genderstereotype einzuordnen und ebenfalls mit einer grossen Lust an der Verwandlung sind Draqueens. Im Gegensatz zu Crossdresser:innen und Furries tragen sie aber ihre Drag-Kleidung meist nicht im Alltag, sondern auf der Bühne.
Notre Dame in Vollmontur. (Foto: Patrick Hürlimann)
«Das erste Mal in Drag ist eine krasse Erfahrung. Man sitzt vor dem Spiegel und sieht sich vollkommen verwandelt. Die Perücke, die Kleidung und die Schminke verändern einen, nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich», sagt Sebastian Ryser. Er steht als Dragqueen Notre Dame auf der Bühne. Er beschreibt seinen Drag-Charakter als «sehr schön, sehr klassisch, aber auch camp».
Auch Christian Raschke alias Rachel Harder ist Dragqueen. Für ihn ist Drag keine Verkleidung. Rachel Harder ist der Ausdruck seiner Persönlichkeit in weiblich gelesener Form. «Sobald man sich im Spiegel sieht, geht etwas in einem auf. Es kommt ein anderes Selbstbewusstsein auf, man fängt an zu strahlen, es ist ein wahnsinnig gutes und echtes Gefühl», erzählt er von seiner Erfahrung.
Rachel Harder hat der Luzerner Dragszene mit verschiedenen Veranstaltungen neue Plattformen geschaffen. (Foto: Franziska Kleinsorg)
Wichtiger Teil dieser Verwandlung sei auch der Prozess der Entwicklung seines Charakters. «Wenn ich ein Karnevalskostüm trage, spüre ich diese innere Veränderung nicht. Der Weg einer Dragqueen bedeutet, dass man im Laufe der Zeit immer mehr entdeckt, was einem gefällt und was man verstärken will.»
Shaolin-Schwerter gegen Stereotype
Liu Bohème hat eine ähnliche Erfahrung gemacht. Sie ist Burlesque-Tänzerin, in ihrer Kunstfigur geht sie speziell auf ihre eigene asiatische Kultur ein. Im Alltag kleidet sie sich sehr sportlich, doch als Burlesque-Tänzerin ist sie sehr sexy, mystisch und kraftvoll. Sie setzt sich für Body Positivity und Empowerment ein.
Liu Bohème will mit ihrer Kunst Stereotype brechen. (Fotos: Nicolas D Chauvet)
Burlesque ist eine Kunstform, die Schauspiel, Comedy und Gesang mischt. Wichtiger Teil davon ist auch der Striptease, also das langsame und sinnliche Ausziehen von Kleidung. «Das Ausziehen ist für mich eine Befreiung von Normen, denen wir Frauen immer ausgesetzt sind», sagt Liu Bohème. Allgemein will sie in ihrer Kunst Stereotype brechen. In ihrem ersten Auftritt benutzte sie Shaolin-Schwerter, welche traditionellerweise nur von Männern benutzt werden.
«Als Dragqueen ist man in all diese Schichten eingepackt. Manchmal kann ich es kaum erwarten, diese wieder auszuziehen.»
Notre Dame, Dragqueen
Auch für Rachel Harder und Notre Dame hat das Ausziehen ihrer Drag-Kleidung eine tiefere Ebene. Einerseits sei es ein befreiendes Gefühl, die hohen Schuhe in die Ecke zu stellen und wieder bequeme Kleidung zu tragen. «Als Dragqueen ist man in all diese Schichten eingepackt. Man zieht sie an und fühlt sich frei, aber nach einer Nacht in Drag kann ich es trotzdem manchmal kaum erwarten, die Schichten wieder auszuziehen», sagt Notre Dame und lacht.
Notre Dame sieht ihre Person als vielschichtiges Wesen.
Doch trotzdem ist es auch ein emotionaler Vorgang, wie Rachel Harder beschreibt: «Ich warte immer bis zum letzten Moment mit Ausziehen. Wenn die künstlichen Wimpern weg sind, bin ich kurz traurig und denke ‹scheisse, jetzt verliere ich sie wieder›.»Jedenfalls bis zum nächsten Mal, wenn Christian Schminke aufträgt, die Perücke aufsetzt und Rachel Harder aus dem Spiegel blickt.
Es gibt noch vier Aufführungen des Stücks «Ich, aber anders» von Anna Papst. Die Spieldaten gibt es hier.
Am 6. Mai findet die Veranstaltung «Drag im Ring» von Rachel Harder im Südpol statt. Weitere Informationen findest du hier. Zudem verlosen wir 2x2 Tickets für den Event. Schreibe uns eine Mail an [email protected].
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