Projekt Nachtleben
Rachel Harder ist die berühmteste Drag Queen Luzerns. Wir haben mit ihr über Pronomen, High Heels und queere Kultur gesprochen.
Lisa Kwasny — 10/19/22, 07:15 AM
Bei Rachel Harder geht es nicht nur um die Show. Die Drag Queen will auch Inhalte vermitteln. (Foto: Franziska Kleinsorg)
Im weissen Kleid einer Schneekönigin, mit rotem Pelz und pinker Perücke betritt sie die Bühne. Rachel Harder betrachtet sich im Spiegel und schreitet dann über den Laufsteg. «I am lost in our rainbow, now our rainbow has gone» dröhnt es aus dem Boxen. Mit einer langsamen, aber bestimmten Bewegung entledigt sie sich dem Rock, dann folgt der Pelz und sie zieht die Brusteinlagen aus dem Dekolleté.
Zum Schluss schleudert sie die Perücke auf den Boden, geht auf die Knie, der Song kommt zum Höhepunkt, alles ist voll Rauch und Rachel versprengt in einem grossen Bogen Wasser auf der Bühne. Das Publikum schreit und applaudiert und kann sich kaum halten, als Rachel den Rasierer nimmt und sich ihre kurzen Haare ganz abrasiert.
In ihrer Rolle kann Rachel es nicht leiden, mit «er» angesprochen zu werden. (Foto: bnw_streetphotography, Sandra und Sébastien)
«Purification» ist der Name dieser Performance, die Rachel Harder am «queeren Frühlingserwachen» im Südpol aufgeführt hat. Sie ist eine der wenigen und gleichzeitig eine der bekanntesten Drag Queens von Luzern, denn sie prägt die queere Szene in Luzern wie keine andere. Ihre Veranstaltungsreihe «by Rachel Harder», welche alle zwei Monate im Südpol stattfindet, ist die einzige regelmässige Drag Show in der Zentralschweiz. Wir haben Christian Raschke, wie Rachel mit bürgerlichem Namen heisst, zum Interview getroffen.
Rachel, was ist die Bedeutung deiner Performance «Purification»?
Ich wollte zeigen, was hinter dem pompösen Klamburium einer Drag Queen steckt. Das Spiel mit den Geschlechtern ist Fassade. Am Anfang ist da eine aufgeplusterte Kunstfigur, dann beginne ich, die Fassade zu lösen und zu zeigen, was dahintersteckt. Da ist ein Mensch mit einer Seele.
Inwiefern hat denn Drag etwas mit Geschlechtsidentität zu tun?
Für mich persönlich nichts. Ich lebe als homosexueller Cis-Mann. Aber wenn ich im Fummel bin, also in meinen Drag-Kleidern, dann will ich auf jeden Fall mit dem Pronomen «sie» angesprochen werden. Wenn mich jemand mit «er» anspricht, kriege ich eine Krise. Das kann keine Drag Queen leiden. Als Rachel Harder bin ich in einer Rolle. Aber es gibt Drag Queens, für die das Thema Transgender eine wichtige Rolle spielt.
Warum wurdest du eine Drag Queen?
Ich mochte es schon immer, Klamotten zu tragen, die weiblichen Personen zugeordnet werden. Ich bin in einem konservativen Umfeld in Bayern aufgewachsen und dachte damals, ich sei pervers oder mit mir sei sonst etwas falsch. Dann kam ich fürs Studium in grössere Städte und sah dort diese Drag Queens. Ich habe sie bewundert, die Grösse, die Eleganz und die Stärke, die sie ausstrahlen. Ich wollte auch so souverän über den Dingen stehen und sagen können «lasst mich alle in Ruhe, ihr konservativen Vollidioten». Es ist aber ein langer Prozess, bis man seine eigene Figur ernst nehmen und begreifen kann, damit es nicht aufgedeckelt wirkt.
Rachel Harder heisst bürgerlich Christian Raschke und ist in Bayern aufgewachsen. (Foto: Lisa Kwasny)
Wann hast du damit angefangen?
Ich arbeite beim Theater Neumarkt in Zürich als Produktionsleiter und Disponent. In der Pandemie waren die Theater geschlossen, da hatte ich kaum Arbeit. Ich habe mir eine Beschäftigung gesucht und das war dann Schminken (lacht). Ich habe stundenlang vor dem Spiegel gesessen, Sekt getrunken und mich geschminkt. Dann habe ich in meinem Fummel allein in der Küche Partys gefeiert. Das war eine schöne Zeit!
Du hast die Drag-Welt also ganz alleine für dich entdeckt?
Nein, ich war in Köln mit der Drag Queen Kelly Heelton befreundet. Sie hat mich manchmal geschminkt und mir diese Welt nahegebracht. Damals habe ich selbst noch nicht Drag gemacht. Und in Berlin habe ich eine sehr gute Freundin, Jacky-Oh Weinhaus, die war da schon seit 10 Jahren Drag Queen und mir auch einiges gezeigt.
Wie lange hast du geübt, in hohen Schuhen zu gehen?
Eigentlich gar nicht. Meine Schuhe sind nicht so hoch und ich laufe auch nicht wie Heidi Klum, aber ich kann 10 bis15 Stunden in denen unterwegs sein, das ist kein Problem. Ich bin an einem Christopher Street Day (queerer Demonstrationstag, kurz CSD) auch schon 8 Kilometer in High Heels mitgelaufen.
Wenn Rachel etwas an der Drag-Szene nicht mag, dann das herumgezicke. (Foto: Franziska Kleinsorg)
Verdienst du mit Drag-Shows auch Geld?
Ja, mittlerweile schon. Zuerst war Drag etwas, was ich mit meinen Freund*innen zum Spass gemacht habe. Jetzt ist es ein aufwendiger Nebenjob geworden und hat einen sehr hohen Stellenwert in meinem Leben erreicht.
Kannst du die Drag Shows gut mit deinem Hauptberuf vereinbaren?
Das Team des Theater Neumarkt, wo ich arbeite, behandelt vor allem queere und BIPoC (Black, Indigenous, and People of Color) Themen und unterstützen mich in meiner Arbeit als Drag Queen deshalb sehr. Ich kann dann auch mal frei nehmen, wenn ein Job unter der Woche ist. Das können ganz verschiedene Dinge sein und reichen von Geburtstagsshows in Restaurants bis zur Moderation der Zentralschweizer Pride.
«Ich finde, dass hier in Luzern eine extrem offene Kultur herrscht.»
Rachel Harder
Was magst du nicht an der Drag-Szene?
Das Gezicke. Ich schliesse mich da aber auch nicht aus, ich kann auch austeilen. Es gibt Jobs, die will man haben, denn da verdient man gutes Geld damit. Dann kommt halt Neid auf. In der Schweiz ist das aber viel entspannter und liebevoller als zum Beispiel in Deutschland.
Wie fühlst du dich in Luzern, wenn du als Drag Queen unterwegs bist?
Ich finde, dass hier in Luzern eine extrem offene Kultur herrscht. Ich bin seit zweieinhalb Jahren hier und habe noch nie an einem Ort gewohnt, wo ich mich so wohl, akzeptiert und angstfrei fühlte. Ich habe weder körperliche noch verbale Übergriffe erlebt. Nicht aufgrund meiner Homosexualität, wenn ich mich als Mann bewege und auch nicht, wenn ich im Fummel in der Stadt unterwegs bin. In Deutschland ist das ganz anders. In Berlin, Köln oder Bonn hatte ich immer das Gefühl, ich muss aufmerksam bleiben.
Gehst du manchmal auch in Drag feiern?
Früher habe ich das öfters privat gemacht, weil ich mega Bock hatte. Mittlerweile bin ich froh, wenn ich nicht vier Strumpfhosen und eine riesige Perücke tragen muss, sondern Turnschuhe und Alltagsklamotten.
In welchen Clubs bist du unterwegs?
Ich gehe vor allem zu Techno feiern, ich liebe das Neubad, die Kegelbahn oder den Molo-Keller. Es gibt andere Clubs, wie das Rok, die ich meide. Wenn ich mir vorstelle, da in Drag aufzutauchen, würde ich mich unwohl fühlen.
Für Rachel Harder ist die Drag-Szene unabdingbar politisch. (Foto: bnw_streetphotography, Sandra und Sébastien)
Ist die queere Kultur für dich auch eine Art Safer Space?
Früher ja. Als ich aus Bayern weggezogen bin, war ich nur auf Gay-Partys. Der Begriff queer war damals noch nicht so geläufig. Mittlerweile interessiert es mich nicht mehr so, auch wenn ich es wichtig finde, dass es das Angebot gibt. Aber ich bin auch schon 35 Jahre alt, als jüngere Person sucht man die Szene viel mehr.
Ist Drag immer mit der queeren Kultur verbunden?
Definitiv. Die entscheidenden politischen Impulse für die queere Bewegung kamen vor allem von lesbischen Frauen, trans*-Personen und Drag Queens. Die homosexuellen Männer waren meistens im Hintergrund. Drag Queens waren durch ihr Erscheinungsbild oft Gallionsfiguren, die sich an den Demonstrationen vorne ran gestellt und die Faust in die Luft gestreckt haben.
«Ich habe auch schon rassistische Sprüche von Drag Queens gehört.»
Rachel Harder
Ist Drag politisch?
Ich finde es unabdingbar. Als Rachel Harder bin ich eine politische Figur mit einem Auftrag. Ich versuche das auch in meinen Veranstaltungen zu vereinen. Ein Teil ist Aufklärung, ein Teil Kunst und ein Teil Gemeinschaftsbildung an der Party. Ich will einen Safe Space für queere Menschen schaffen. Aber das sehen nicht alle Drag Queens so. Für einige geht es hauptsächlich um Shows, die machen die Kostüme selbst und setzen auf ein aufwendiges Make-Up. Da entscheiden alle selbst, was sie aus ihrer Figur machen, denn Drag ist extrem vielfältig und darf (fast) alles.
Gibt es auch rechte Drag Queens?
Ich kenne persönlich keine. Es gibt Drag Queens, die sich nicht für die queere Debatte interessieren und einfach unpolitisch sind. Ich habe auch schon rassistische Sprüche von Drag Queens gehört. Aber die würde ich nicht pauschal als rechts bezeichnen, sondern als unreflektiert und einfach. Ich finde, dass die queere Bewegung und Antirassismus sich gegenseitig stützen können. Natürlich sind die beiden Themenkomplexe nicht vereinbar, da Rassismus historisch viel tiefer greift. Doch es gibt Schnittstellen, wie die Grundforderung nach Toleranz und Akzeptanz.