In der Zentralschweiz bedeutet «Kultur» regionales Kulturschaffen. Das ist ein Problem: für die Kultur, die kulturell Schaffenden, die Kulturkritik, für uns alle. Auch für Sie.
Heinrich Weingartner — 04/01/20, 12:54 PM
Achtung: Dieser Text handelt von Wörtern. Genauer gesagt von einem einzigen Wort. Wenn Sie also auf Sprache allergisch sind oder meinen, «das sind doch bloss Wörter», könnte Ihnen dieser Text missfallen. Umso besser. Nur Sprache bringt uns weiter. Wir sollten sie untersuchen, hinterfragen, weiterentwickeln und uns an ihr stören, wo und wann wir können. Und für diejenigen, die noch nicht überzeugt sind: Es geht in diesem Text auch um Mayonnaise.
Wortherkünfte werden grundsätzlich überschätzt. Ich verstehe nicht, weshalb Menschen sie ausgraben und in ihre Argumente einbauen. Diese Sorte Mensch sagt auch, wir seien seit jeher Jägerinnen und Sammler. Und das müsse für immer so bleiben. Eine Wortherkunft ist nur dann erwähnenswert, wenn von ihrem Ursprung bis heute eine Entwicklung nachgezeichnet werden kann. Das ist bei «Kultur» der Fall.
«Kultur» stammt laut Duden vom lateinischen «cultura». Dies bedeutet zweierlei:
Heute kennt der Duden fünf verschiedene Definitionen von «Kultur», teilweise mit mehreren Unterdefinitionen. Wenn Ihnen also jemand weismachen möchte, dass sowieso und schon immer und für immer klar ist, was wir mit «Kultur» meinen, dann Vorsicht: Dieser Mensch ist ein Sprachfaschist.
Vier Bedeutungen
Wir reden im Alltag in mindestens vier Bedeutungen von Kultur. Erstens: Kultur als Gegenteil von Natur. Alles, was der Mensch auf die Natur pflanzt: Bildung, Wissen, Architektur, Philosophie, Fussballsammelbildchen, WC-Papier. Diese Bedeutung ist seltsam, weil: Kultur kann nicht das Gegenteil von Natur sein. Der Mensch ist Teil der Natur und somit ist seine Kultur Teil der Natur. Auch das Hubble-Weltraumteleskop. Alles Existierende ist natürlich. Kultur als Anteil des Menschen an der Natur ist die grundlegendste und neutralste Bedeutung von Kultur.
Weniger neutral ist, zweitens, der kulturwissenschaftliche Begriff von Kultur. Er umreisst je nach Forschungslage die Gesamtheit oder einen Teil menschlicher Praktiken: Was Menschen tun, denken und wie sie reden. Diesen Begriff haben marxistische Soziologen Anfang des 20. Jahrhunderts ins Leben gerufen. Er wurde von soziologischen Marxisten in den 1960er-Jahren unter dem Begriff «Cultural Studies» weiterentwickelt. «Kultur» ist in dieser Bedeutung hochpolitisch. Vielfach geht es um «Communities»: die Punkszene in der isländischen Pampa, die Reiterjägerkulturen in der tatsächlichen, südamerikanischen Pampa – you name it. Und es geht im- oder explizit darum, die eigene, westliche Kultur aus der Deutungshoheit zu stossen. Obwohl Kulturwissenschaffende also den Ast absägen, auf dem sie sitzen, gilt ihnen das Verdienst, die Grenzen von «Wir», «Die Anderen», «Hier» und «Dort» zum Verschwimmen gebracht zu haben. Leider haben sie uns aber begriffliche Wucherungen von «Polizeikultur», «Fussballkultur» bis hin zu «Lastwagenfahrerinnenkultur» oder «Briefmarkensammelkultur» eingebrockt.
Drittens: Der normative Kulturbegriff. Würden Sie sich als «kultiviert» bezeichnen? Wer würde das nicht. Ich beispielsweise verwende Mayonnaise sehr oft. Die Sauce, nicht das Wort. Zu Pommes Frites, zu Kalbsmedaillons, zu Eiern, manchmal auch als Brotaufstrich. Deshalb bezeichnet mich mein Umfeld als «unkultiviert». Seit der Aufklärung ist Kultur moralisch aufgeladen und instrumentalisiert worden. Von Moralkeulenschwingerinnen und Moralkeulenschwingern jeglicher Couleur. Zwei Lager sind noch heute aktiv: Nationalkulturalistinnen zum einen und Spartenkulturalisten zum anderen. Für Nationalkulturalisten ist kultiviert, wer die Bräuche und Sitten des Landes kennt. Für Spartenkulturalistinnen ist kultiviert, wer die hochgehaltenen Produkte aus der Spartenkultur – Theater, Performance, Tanz, Film, Musik, Kunst, Architektur, Fotografie, Literatur – kennt. Sie vertreten den vierten und letzten Kulturbegriff.
Dieser umfasst das «Kulturschaffen» einer Region, eines Landes oder einer gesamtweltlichen Epoche. Die Schweiz ist ein Land von Spartenkulturalisten. Diese enge Vorstellung von Kultur ist verdammt jung. Erst nach dem «Clottu»-Bericht 1975 wurde die Förderung von aktuellem, lokalem Kulturschaffen institutionalisiert. Die Bezeichnung «Kulturschaffende» wurde wieder salonfähig. Ein Begriff, der besonders im nationalsozialistischen Deutschland verwendet wurde. Nicht negativ. Obwohl der «Clottu»-Bericht die Übernahme des weiten UNESCO-Kulturbegriffs forderte (eine Mischung aus erster und zweiter Bedeutung von Kultur), setzen Bund, Kantone und Gemeinden bis heute «Kultur» mit Kulturschaffen gleich. Diese enge Sicht des administrativ-politischen Apparates hat natürlich berechtigte Gründe: Meine Mayonnaise-Grillparty ist Teil der Kultur, gehört aber nicht gefördert. Eine professionelle Theaterproduktion hingegen schon.
Denken in Sparten
Für sämtliche Online-Newsportale, Kulturmagazine, Lokalradios und Tageszeitungen der Zentralschweiz ist Kultur eine Sparte, die an den Stadt- oder Kantonsgrenzen aufhört. Sie äffen den administrativ-politischen Apparat nach, der diese Einengung vornehmen muss. Diese Medien hingegen müssten gar nichts. Sie sehen kulturell Schaffende als die Einzigen, die Kultur schaffen. Sie verorten Kreativität ausschliesslich in der Spartenkultur. Und sie scheuen vor sparten- oder regionsübergreifenden Vergleichen oder kreativen Berichten, die selber ein Stück Kultur sein könnten, zurück. Sie glauben, dass sie damit dem lokalen Kulturschaffen einen Gefallen tun. Im Gegenteil: Die sogenannte, medial kolportierte «Kulturszene» ist für regional kulturell Schaffende eine luftdichte Schublade, die sie erstickt. Und genau diese Schublade lässt immer wieder dieselben Förderdiskussionen und Minderwertigkeitskomplexe aufkommen.
Kulturjournalismus ausserhalb der Zentralschweiz hat schon lange einen breiteren Fokus. «DIE ZEIT online», Ressort Kultur: «Darf man über Wissenschaftlerwitze lachen?», «Nicht reisen dürfen in Corona-Tagen», «Reagieren weiblich geführte Staaten besser auf die Pandemie?», «Fünf Filmschaffende über ihre guilty pleasures». Kulturberichterstattung in allen obigen Bedeutungen. Ein breiter Kulturbegriff würde die hiesigen Medien zu Kreativität anregen, kulturell tätige Menschen in einen grösseren Kontext setzen, ihre Arbeit aufwerten und ganz allgemein der Zentralschweizer Kultur guttun. Wenn unsere Kultur nicht bei Sparten, Veranstaltungen und regionalen Grenzen aufhört, dann hört auch unser Denken nicht dort auf. «Kulturfeuilleton» hat in den letzten Jahrzehnten eine elitäre, negative Konnotation erhalten. Das liegt aber nicht am Begriff, sondern an denjenigen, die ihn füllen.
Vor einigen Jahren sagte jemand: «Kultur ist ein Grundlebensmittel.» Das ist nicht nur falsch, das ist auch eine argumentative Bankrotterklärung. Kultur kann man weder essen noch trinken und ehrlicherweise braucht man sie auch nicht zum Leben. Aber das ist genau der Punkt: Kultur unterscheidet uns von reinen Bedürfnismaschinen. Und ist deshalb nicht essenziell für die Tiere, sondern die Menschen in uns. Kultur ist, im Gegensatz zu Mayonnaise, keine einfache Sauce. Sondern eine, die sich stetig neu zusammensetzt. Kultur ist keine Sparte, Kultur ist eine Weltsicht.
PS: Meine Überlegungen in diesem Essay stützen sich unter anderem auf «Was ist Kultur?» von Terry Eagleton. Dort drin stehen Sätze wie: «Kultur muss gleichzeitig als immanente Kritik oder Dekonstruktion wirken und eine unerlöste Gesellschaft von innen her besetzen, um ihren Widerstand gegen das Walten des Geistes zu brechen.» Eagleton hat mit solchen Sätzen regelmässig meine Motivation, das Buch zu Ende zu lesen, dekonstruiert. Ich habe es trotzdem getan.
Heinrich Weingartner ist Co-Initiant von Kultz. Er hat an der Universität Zürich Philosophie sowie Filmwissenschaften studiert und ist in der Zentralschweiz seit sieben Jahren als (Kultur-)Journalist tätig.