Verpönte Küche
Wer kein Hirn isst, dem sollte das Recht auf Fleischkonsum entzogen werden, meint Sylvan Müller. Er macht sich in der Zentralschweiz auf die Suche nach verpönter Küche. Teil 4: Das Herz.
Sylvan Müller — 07/05/22, 12:47 PM
Das Herz bedeutet Leben. Und dennoch wird es gegessen. (Foto: Sylvan Müller)
Sylvia Trionfini sitzt am langen Tisch in der Gaststube, die Stühle sind hochgestellt, Gäste erwartet sie an diesem Tag keine auf der Wissifluh. Die kleine Alpwirtschaft thront weit über Vitznau, 950 Meter über Meer. Mit ihrem Mann Jürg und Sohn Sidney bewirtschaftet sie den kleinen Biobetrieb mit Hotel und Restaurant und der wohl spektakulärsten Terrasse am Vierwaldstättersee. Ein paar Wollschweine und ihr Grauvieh weiden an den Hängen. Die private Luftseilbahn bringt Gäste hoch zu ihnen. Wenn sie denn geöffnet haben. Das haben sie nur auf Reservation. In der Küche liegt ein geschmortes Rinderherz im Topf.
Sie erzählt von der Musik, die sie ihrem Sohn vorgespielt hat, dem ungeborenen Menschen in ihrem Bauch. Schamanische Klänge vermischt mit Herztönen. Sie sollten das Organ des Sohnes unterstützen bei ihren ersten Arbeit. Die Ärzte hätten das Klopfen in der Musik regelmässig mit dem Schlagen des ungeborenen Herzen verwechselt und staunend das Kind im Bauch für seine unbändige Kraft gelobt. Und ohne Umweg vom Herz des Sohnes zum Topf in der Küche, erzählt sie von der Köchinnen-Lehre im Restaurant «zum Kropf» anfangs der siebziger Jahre in Zürich. Innereien hätten da jeden Tag auf dem Menü gestanden. Kutteln, Leber, Herz, Hirn. Das Schälen des Hirns sei für sie wie eine Meditation gewesen. Die Trinkflasche die sie in ihren Händen hält ist übersäht mit kleinen, farbigen, aufgeklebten Herzen.
Sylvia Trionfini wirtet hoch über dem Vierwaldstättersee. (Foto: Sylvan Müller)
Herzen essen. Einen Muskel zu verspeisen, der mit vehementer Ausschliesslichkeit für das Leben steht, für das Innerste, meint auslöschen von Leben. Besitznahme und Machtausübung. Oder auch nicht zu steigernde Nähe.
Das Motiv vom Essen des Herzens ist ein viel besprochenes Thema in den meisten Kulturen. Die Herzmäre, eine Minne aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert, erzählt die Dreiecksgeschichte zwischen einem Ritter, einer Dame und deren Ehemann. Der Ritter liebt die verheiratete Dame. Fernab der Heimat liegt er im Sterben. Diagnose: Liebessehnsucht, gebrochenes Herz. Er bittet den Knappen nach seinem Tod sein einbalsamiertes Herz der Dame zu überbringen. Auf dem Botengang wird der Knappe jedoch durch den Ehemann abgefangen. Dieser lässt das Herz als Gericht zubereiten und setzt es seiner Gattin vor, die es isst. Sie erfährt, dass es sich um das Herz ihres Geliebten handelte, erkennt dessen unbedingte Liebe und stirbt selbst, unfähig weitere Nahrung aufzunehmen. Das Verzehren in seiner Doppeldeutigkeit - essen oder sich sehnen – findet seinen Kulminationspunkt im dramatischen Ende der Erzählung.
Auch das Verspeisen von Tierherzen ist kulturhistorisch ähnlich drastisch besetzt. So berichtet das volkskundliche Nachschlagewerk «Handwörterbuch des Aberglaubens», dass der Verzehr von Tierherzen unverwundbar und seuchenfest mache, die Gabe der Unsichtbarkeit und Hellsichtigkeit verleihe und dazu befähige, Schlaf und Träume der Menschen zu beeinflussen und die Tiersprache zu verstehen. Das fremde Herz wird zur Kapsel, in der man wohnen, die man erobern und beherrschen kann.
Auch nur ein Muskel: das Herz.(Foto: Sylvan Müller)
Und doch sei es einfach ein Muskel, meint Sylvia Trionfini. Ein Muskel der selbst von ruhenden Tieren ständig bewegt wird, dunkles, zartes Muskelfleisch das zerteilt und zubereitet nicht an eine Innerei erinnert, eher noch an Fleisch vom Wild. Eine Innerei die sich zu verwerten lohne, wie alles andere vom Tier. Mit Liebe und Respekt. Der unverkrampfte Umgang mit Innereien ist ihr seit der Ausbildung geblieben.
In der Küche nimmt Sylvia das imposante, geschmorte Rinderherz aus dem Bräter. Liebevoll gefüllt mit Wildkräutern und sorgfältig mit grossen Blätter von Meerrettich und Cassis eingewickelt, hat sie es über mehrere Stunden auf Alpheu und in etwas Wein geschmort. Es liegt da wie ein Geschenk. Das innerste vom Rind. Sitz von Lebenskraft und Seele. Zubereitet mit Liebe und Respekt.
Sylvia Trionfini ist eine ausgewiesene Wildkräuter-Expertin, was sich in ihrem Rezept widerspiegelt. Die Kräuter in diesem Rezept können nach Belieben und Verfügbarkeit ersetzt werden, Hauptsache, die Kräuter sind frisch. Wem das Rezept zu kompliziert ist, gilt glücklicherweise bei der Zubereitung von Herz die Devise: lang oder sehr kurz. Kurz hiesse zum Beispiel: Das Herz in 3 bis 4 Zentimeter dicke Stücke schneiden, kurz und sehr heiss in einer Pfanne oder noch besser auf dem Grill von allen Seiten kräftig anbraten, etwas ruhen lassen, dünn aufschneiden und mit etwas Salz, Pfeffer, Limette und Minze würzen. Oder eben lang so:
Das Herz wird am besten auf einem sehr heissen Grill zubereitet. (Foto: Sylvan Müller)
1 Rinderherz
Für die Kräuterfüllung:
Thymian
Bohnenkraut
Lorbeer
Liebstöckel
Chili
Majoran
Rosmarin
Beifuss
deutsche Kresse
Knoblauch
Senf
Salz
Pfeffer
Für den Mantel:
Grosse Blätter vom Meerrettich und Cassis
Bindfaden
Ein paar Karotten
Ein paar Pfälzer Rüebli
1 Lauch
1 Liter Gemüsebouillon
1 Flasche Rotwein
frisches Heu
Das Herz säubern und in einer Pfanne oder besser im sehr heissen Grill aufgeklappt von beiden Seiten gut anbraten. Die Kräuter für die Füllung hacken und mit dem fein gehackten Knoblauch und dem Senf vermischen. Die Mischung mit Salz und Pfeffer abschmecken. Das Herz mit der Kräutermischung füllen, auf die Blätter vom Cassis und Meerrettich legen und einwickeln. Das Paket mit Bindfaden verschliessen.
Karotten und Pfälzer Rüebli schälen und in grobe Stücke schneiden, Lauch reinigen und auch in Stücke schneiden.
Auf den Boden eines Bräters die Karotten und den Lauch geben, das frische Heu dazugeben und den Bräter damit auslegen. Nun das eingewickelte Herz ins Heu-Bett geben. Das Ganze mit der Bouillon und dem Wein angiessen, bis das Herz zu zweidrittel mit Flüssigkeit bedeckt ist. Das Ganze auf dem Herd kurz aufkochen, dann den Bräter verschliessen und im Ofen bei 185 Grad eine halbe Stunde schmoren, dann die Temperatur auf 155 Grad reduzieren und in eineinhalb Stunden fertig schmoren.
Herz vom Jungrind gibt’s auf Bestellung beim Uelihof. 041 310 71 15 Sylvia & Jürg Trionfini empfangen ihre Gäste hoch über dem Vierwaldstättersee und nach kurzer Fahrt mit der hauseigenen Seilbahn ab Vitznau. Das Restaurant ist nur auf telefonische Voranmeldung geöffnet, Speisekarte gibt es keine. 041 397 13 27 Sylvan Müller fotografiert, schreibt, macht Wein, backt Brot, importiert Austern und teilt seine Leidenschaft für grossartige Lebensmittel in der Jazzkantine Luzern. |
Sylvan Müller fotografiert, schreibt, macht Wein, backt Brot, importiert Austern und teilt seine Leidenschaft für grossartige Lebensmittel in der Jazzkantine Luzern. Dieser Artikel wurde im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.