Misanthropie am Morgen
Seit rund einem Monat sendet Radio Energy auch in Luzern. Unser Autor hat zwei Stunden zugehört. Ein schmerzlicher Erfahrungsbericht.
Martin Erdmann — 09/08/21, 10:41 AM
Kammer des Schreckens: Radiostudio von Energy.
Es ist 7.18 Uhr und ich habe jegliches Vertrauen in die Menschheit verloren. Für gewöhnlich beschleichen mich ernsthafte Zweifel an der menschlichen Existenz erst am frühen Nachmittag. Doch Radio Energy Luzern schafft es, mich bereits nach einer Viertelstunde des Wachseins in diesen hoffnungslosen Zustand zu versetzen.
Es beginnt mit einem ausgiebigen Hinweis, dass heute die neue Staffel von Switzerland’s next Topmodel startet. Sämtliche verfügbaren Nebensätze werden mit dem Wort «sexy» ausgestattet. So viel Hochkultur auf leeren Magen muss zuerst verdaut werden. Doch dafür bleibt keine Zeit. Im nächsten Augenblick klärt mich die hauseigene Energy-Anwältin darüber auf, ob Kinder geimpft werden dürfen. Es fällt mir schwer, ihren Ausführungen zu folgen. Aus unersichtlichen Gründen wird der Beitrag von aufdringlichem Dixieland-Gedudel untermalt.
Es ist 7.55 Uhr und ich befürchte, dass meine Liebe zur Musik für immer erloschen ist. Wer bei Radio Energy die Playlist kuratiert, hat wohl in einem früheren Anstellungsverhältnis die Songs herausgesucht, mit denen Terrorverdächtige in Guantanamo zu einem Geständnis gezwungen werden sollten. Lieder, die auf Radio Energy gespielt werden, müssen primär das Lebensgefühl von jenen Menschen ausdrücken, die freitagabends mit der S1 von Nottwil nach Luzern fahren, um dort rotzevoll und in alberner Verkleidung unbescholtene Passanten mit dem Umstand zu belästigen, dass sie bald heiraten werden.
Es ist 8.32 Uhr und ich verspüre das starke Bedürfnis, Maik Wisler zu quälen.
Radio Energy spielt den Soundtrack zum Lebensentwurf des schweizerischen Durchschnittsmenschen. Bürolehre oder irgendetwas anderes Entwürdigendes abgeschlossen. Sprachaufenthalt in Australien, der längst nicht dazu gereicht hat, um bei Netflix auf Originalton zu wechseln. Schulschatz geheiratet, Nachwuchs gekriegt, in die Agglomeration gezogen. Im Garten steht Kugelgrill neben einem Trampolin, auf dem die Kinder zum Takt von Rihanna und Ed Sheeran hüpfen, wenn die Eltern wieder einmal Radio Energy aufgedreht haben, um damit ihren lautstarken Scheidungsstreit zu übertönen.
Es ist 8.32 Uhr und ich verspüre das starke Bedürfnis, Maik Wisler zu quälen. Die letzten 15 Jahren trieb er bei Radio Pilatus sein Unwesen. Jetzt ist dieses menschgewordene V-Neck-Shirt aus dem C&A wieder an den Ort zurückgekehrt, an dem er seine Moderatoren-Karriere lanciert hat. Seine Hauptaufgabe liegt darin, zwischen den musikalischen Plattitüden einen guten Morgen zu wünschen. Er tut das so oft, dass ich mir sehnlichst wünsche, es könnte bald Nachmittag werden. Es wird aber nicht Nachmittag. Denn eine Minute auf Radio Energy dauert eine Ewigkeit. So bleibt es für immer Morgen. Und der muss gut sein. Weil Maik Wisler das so sagt.
8.59 Uhr. Seit bald zwei Stunden strömt Radio Energy ununterbrochen in meine Gehörgänge. Ich liege im Bett, den Blick lethargisch an die Decke gerichtet. Ich müsste aufstehen, aber ich kann nicht. Ich glaube nicht, dass ich noch Teil der Welt ausserhalb meines Schlafzimmers sein will. Die Einschaltquoten von Radio Energy geben allen Anlass dazu. Nur schon in Zürich erreicht der Sender 220'000 Zuhörer*innen pro Tag. Während einer Werbung für das Luzerner Oktoberfest schalte ich das Radio aus.