Verpönte Küche
Wer kein Hirn isst, dem soll das Recht auf Fleischkonsum entzogen werden. Ohne Herz kein Filet, ohne Kutteln keine Koteletten, meint Sylvan Müller. Er macht sich auf die Suche nach der verpönten Küche der Zentralschweiz. Heute: Milke.
Sylvan Müller — 05/31/22, 10:30 PM
Die Milke gilt auch als Krankenspeise. (Foto: Sylvan Müller)
Man muss sie nur lange genug braten, die Milke. Dann schmeckt sie, wie sie sich Innereien-Hasser vorstellen: Ekelhaft. Wie die meisten Delikatessen verlangt die Thymusdrüse eine sanfte Behandlung. Und das geht so: Sie gehört sorgfältig gereinigt, kurz blanchiert, Häutchen und Äderchen werden geduldig entfernt, und nachdem sich das Organ unter dem Gewicht eines Küchenbrettes langsam abgekühlt hat, soll es in einzelne Segmente zerlegt mit wenig Mehl bestäubt, delikat gesalzen und in bester, heiss aufgeschäumter Butter kurz angebraten werden. Kurz. Leicht rosa und saftig soll sie bleiben.
Die Milke, Bries genannt bei unseren nördlichen Nachbarn, oder präzise eben die Thymusdrüse, ist der wesentliche Teil zur Bildung eines funktionierenden Immunsystems bei Jungtieren. Sie sitzt im vorderen Teil der Brust und besteht aus einem länglicheren Teil an der Hals- sowie einem rundlicheren Teil an der Herzpartie. Miteinander verbunden bilden die Herzmilke und die Halsmilke ein Organ. Mit dem Eintritt in die Pubertät hat es seine Hauptarbeit getan und es bildet sich physiologisch zurück.
Der Name der Drüse bezieht sich auf das altgriechische Wort für Lebenskraft, Thymos. Gut möglich, dass auch deswegen die Schweizer Kochbuchpionierin Elisabeth Fülscher in ihrem gleichnamigen Standardwerk 1966 die Milke zum kulinarischen Heilspender deklarierte: «Milkengerichte sind zart und leicht verdaulich, deshalb auch geschätzt als Krankenspeise». Das stimmt nur bedingt. Zwar ist die Milke reich an Vitamin C und Kalium, aber eben auch an Purin und sollte deswegen bei Gicht gemieden werden.
Das interessiert Marcel Hurschler wenig. Der 27-Jährige ist kein Diätkoch, er beglückt die Gäste der Jazzkantine in Luzern mit wenig Rücksicht auf Menge der Kalorien. Und gerne auch mit Innereien. Gerade die Milke ist oft im Menü der Altstadt-Beiz zu finden.
Marcel Hurschler kocht in der Jazzkantine in Luzern. (Foto: Sylvan Müller)
In seiner Kindheit haben Innereien keine Rolle am Familientisch gespielt. Aufgewachsen ist er mit Wurst, an besonderen Anlässen gab es Filet. Das war’s zum Thema Fleisch. Als aber dem Tierarzt in der Nachbarschaft ein paar Schweine zum Geburtstag geschenkt wurden, und dieser sich bei den Spendern mit einer Metzgete bedankte, kam er zum ersten Mal mit Leber und Co. in Berührung. Das war der Anfang einer grossen Liebe und die Entdeckung neuer Geschmäcker und Konsistenzen.
Wann immer möglich, probierte er sich nun durch das Innere der Tiere: Die Milke, die Niere, das Herz, die Leber und vor allem die fette Variante davon, die Foie gras, lernte er lieben, aber auch das Blut in Würsten. In seinem Lehrbetrieb, der Krone in Blatten, war die Milke Dauergast auf der Karte, und das nicht nur in der Luzerner Chügelipastete, in die eben nicht nur Chügeli, sondern vor allem auch Milke gehört. Die Pastete scheine aber auch einer der Gründe zu sein, wieso die Milke in der Zentralschweiz einigermassen gut akzeptiert sei, vermutet Hurschler.
Und sie schmecke eher nach Fleisch und nicht nach Innerei und sei darum von diesen die am einfachsten zugängliche für die meisten Gäste. Ausserdem lasse sie sich paniert und kross gebraten jedem servieren: Wie Chicken Nuggets halt ... In der Jazzkantine gibt’s meist die Herzmilke der Jungrinder vom Uelihof, aber die liebste aller Milken ist für Marcel Hurschler diejenige der jungen Ziegen. Die kriegt er von Toni Odermatt von der Geissäheimet Meierskählen in Stans.
Da, in den steilen Nordhängen des Stanserhorns, weiden Odermatts Toggenburger Ziegen. Er ist gelernter Käser, die Ziegenkäse sein ganzer Stolz und sein geräucherter Ricotta wird bis weit zu unseren südlichen Nachbarn bewundert. Aber wo Käse im Kessi blubbert, fällt auch das Fleisch von Jungtieren an. Toni Odermatt schlachtet eigenhändig auf seinem Hof und verwertet alles von den jungen Ziegen. Am Anfang sei der Verkauf von Gitzi-Zunge, Herz und Milke nicht ganz einfach vonstattengegangen.
Inzwischen habe sich aber eine regelrechte Fangemeinde etabliert, die ihm die Innereien aus den Händen reissen würden. Vor allem die Milke sei sehr beliebt, erzählt Toni Odermatt. Mit dem Alter und nachlassendem Milch-Konsum der Tiere verfärbt sich diese vom zarten Weiss-Rosa immer dunkler ins Rötliche. Dann sei der Zeitpunkt gekommen, wo er sie nicht mehr verwerten würde – sie wäre dann nicht mehr zart genug, erzählt der Ziegenbauer. Hingegen komme es immer wieder vor, dass eine erwachsene Ziege wieder beginnen würde, Milch zu säugen, manche gar von ihrem eigenen Euter. Deren Milke werde dann wieder heller, ein Rückfall in die Jugend sozusagen, und das Organ sei wieder zu verwenden in der Küche.
Marcel Hurschler freut's, seine Gäste auch. Natürlich sei auch bei den Besucher*innen der Jazzkantine anfangs bei Gitzi-Fleisch im Allgemeinen und bei Gitzi-Innereien im Speziellen etwas Skepsis vorhanden gewesen, meint Marcel Hurschler. Aber der Umstand, dass es bei ihm halt eben nur ein einziges Menü gäbe, hätte geholfen. Keine Wahl sei eben halt auch eine Wahl … Inzwischen hätte sich das Publikum in der Jazzkantine daran gewöhnt, sich mit etwas Entdeckerlust an den Tisch zu setzen. Und schliesslich arbeite man hier auch ausschliesslich nach dem Credo: Wir servieren nur, was wir selber gerne am liebsten hätten. Gitzi-Milke zum Beispiel.
Rettich-Pickels
1 schwarzer Rettich
200g Wasser
200g Zucker
Fenchelsamen
Pfeffer
Lorbeer
Salz
Schwarzer Rettich gut waschen, in dünne Scheiben hobeln. Wasser mit Zucker und den Gewürzen aufkochen, kurz ziehen lassen und den Rettich mit dem kochenden Fond angiessen und zugedeckt zwei Stunden ziehen lassen.
Rettich in Salzlake
1 schwarzer Rettich
Salz, Wasser
Den schwarzen Rettich gut waschen, in Spalten schneiden und in kochendem, stark gesalzenem Salzwasser bissfest kochen. Vom Herd nehmen und in der Lake leicht abkühlen lassen.
Miso-Mayo
4 Eigelb
1EL Senf
1EL Wasser
1EL Weissweinessig
Salz
350ml Rapsöl
1EL Miso-Paste
Pfeffer
Eigelb mit Senf, Wasser, Essig und Salz schaumig rühren, danach Öl in einem dünnen Strahl unter ständigem Rühren beigeben. Mit Miso und Pfeffer abschmecken.
Gitzi-Milke-Nuggets
300g Gitzi-Milken
500ml Wasser (oder genug um die Milken vollständig zu bedecken)
2 Lorbeerblätter
Ein paar Wachholder-Beeren
Ein paar Nelken
Ein paar Pfefferkörner
Salz
Mehl
2 Eier
100g Haselnüsse, geröstet, gemahlen
100g Paniermehl
Schmalz oder Beurre Noisette
Die Gitzi-Milke ist auf Grund ihrer feineren Konsistenz etwas einfacher zuzubereiten als die Kalbsmilke. Sie muss lediglich in Wasser gut gereinigt werden und von letzten Blutresten befreit werden. Danach das Wasser mit Lorbeer, Wachholder, Nelken, Pfeffer und Salz aufkochen, die Milken darin je nach Grösse 45 bis 60 Minuten ziehen lassen. Abkühlen lassen und trocken tupfen. Zuerst im Mehl, dann im Ei und dann in der Mischung aus halb Paniermehl, halb gerösteten Haselnüssen wenden und in reichlich Fett bei mittlerer Hitze anbraten. Den gepickelten Rettich mit dem in Salzlake eingelegten Rettich auf einem Teller anrichten, die Milke-Nuggets dazugeben und mit etwas Miso-Mayo servieren.
Gitzi-Milke gibt’s auf Bestellung bei Toni Odermatt meierskaehlen.ch, 041 610 11 09 Er steht auch jeden Samstag am Helvetiaplatz-Markt in Luzern. Marcel Hurschler kocht von Montag bis Samstag in der Jazzkantine Luzern. Nicht nur Innereien. jazzkantine.com, 041 410 73 73 |
Sylvan Müller fotografiert, schreibt, macht Wein, backt Brot, importiert Austern und teilt seine Leidenschaft für grossartige Lebensmittel in der Jazzkantine Luzern. Dieser Artikel wurde im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.