Prime Time
Der mexikanische Film «Nuevo Orden» zeigt eine Stadt, die im Chaos, in Intrigen und Bestechungen versinkt. Ohne Hoffnung, ohne Auswege. Hart.
Heinrich Weingartner — 08/13/21, 01:07 AM
Marianne und Cristian versuchen, sich mit dem Auto durch die umkämpfte Innenstadt zu schlagen. (© The Match Factory)
Mexico City, in naher Zukunft. Bei einer pompösen Hochzeit einer reichen Familie in einer Luxusresidenz taucht Rolando auf. Er ist ein ehemaliger Hausangestellter und bittet um 200'000 Pesos – umgerechnet etwa 10'000 Schweizer Franken. Diese benötigt er als Vorauszahlung für eine lebensnotwendige Herzoperation an seiner Frau. Marianne, die Braut der Hochzeit, zeigt als einzige Sympathien für Rolandos Anliegen und macht sich mit ihrer Kreditkarte auf den Weg. Währenddessen schleichen sich anonyme Rebellen aus der Unterschicht in die Residenz und bedrohen die Hochzeitsgesellschaft. Anschliessend: Mord, Diebstahl, Sodom und Gomorrha. Marianne wird auf ihrem Weg zum Krankenhaus vom Militär «befreit» und in ein Lager entführt. Danach geht es nur noch bergab.
Da hat die Marketingabteilung des Verleihs wieder einmal nur den Trailer geschaut oder ist im Kino eingeschlafen: Man muss schon eine wild blühende Fantasie haben, um diesen Streifen als politischen Revolutionsfilm zu verkaufen, der Klassenhierarchien kritisieren soll. «Nuevo Orden» ist zutiefst pessimistisch – ein Film, der unbarmherzig seine Figuren zerquetscht und jedes Fünkchen Hoffnung im Keim erstickt. Sozialistische Umstürzler-Fantasien demontiert der Film quasi im Vorbeigehen: Die revoltierende Unterschicht agiert noch viel bestialischer und rücksichtsloser als die eloquente, hedonistische Wohlstandselite.
Es geht lange chaotisch zu und her in «Nuevo Orden» und selten gewährt einem der Film eine Verschnaufspause. Aber das hat System. Genau so gehen auch militaristisch und polizeistaatlich geprägte Diktaturen vor, wenn sie ihre Macht zementieren wollen: Ablenkung, Einschüchterung, Chaos. Irgendwann sieht man ein, dass hier alles, jede und jeder korrumpiert ist. Wie Tiere benehmen sich fast ausnahmslos alle Menschen in «Nuevo Orden» und es gibt keinen scheinheiligen Lichtblick in Richtung Hollywood-Schablone. Das gefällt nicht jedem Publikum.
Da ist keine Parabel oder «Message», die einem das Leben erleichtert.
Nach zwei Dritteln des Films sucht man immer noch verzweifelt nach dem Parabelhaften oder nach dem schlimmsten aller Filmbegriffe, der «Message». Aber das hier ist keine Parabel und es ist auch keine Message auffindbar, die einem das Leben erleichtern und womit man den Film beim Montagmorgenkaffee der Chefin weiterempfehlen könnte. «Nuevo Orden» walzt unermüdlich weiter, bis zum bitteren Ende und bis zur bitteren Konsequenz. Die vielfach herbeibemühte «Moral von der Geschicht», die gibt es hier nicht. Erfrischend. Da kommen Erinnerungen an den Surrealisten Fernando Arrabal («Viva La Muerte») hoch, eine Prise Anti-Kino vom Schlage eines Gaspar Noé («Irreversibel») ist auch drin. Aber solche Vergleiche, Regisseur Michel Franco braucht sie nicht.
Nuevo Orden, ab jetzt im Kino Bourbaki
Regie: Michel Franco, mit: Naian González Norvind, Fernando Cuautle, Diego Boneta
Prime Time ist das Kultz-Format für Film und Fernsehen. Jeden Freitag schreiben Sarah Stutte und Heinrich Weingartner über die neuesten Blockbuster, Arthouse-Streifen und gehypten Serien. |