Endlose Klatsch-Orgien
Der Zirkus Knie ist in der Stadt. Unser Autor war an der Premiere auf der Luzerner Allmend und kehrte traumatisiert zurück.
Martin Erdmann — 12/06/21, 11:00 AM
Von aussen besser als von innen: Zelt vom Zirkus Knie.
Eigentlich wollte ich mit nichts als positiven Worten in diesen Text einsteigen. Ursprünglich besuchte ich die Knie-Premiere auf der Allmend mit der kindlichen Absicht, mich vom Zauber des Zirkus begeistern zu lassen. Dieser Vorsatz musste knapp eine Minute nach Programmstart unwiderruflich verworfen werden. Die Magie der Manege hatte keinerlei Einfluss auf mich. Die zweieinhalbstündige Darbietung fühlte sich an, als hätten die SRF-Unterhaltungsverantwortlichen ein Samstagabendkonzept entwickelt, das einer Mischung aus Musikantenstadl, Benissimo-Sketchen und Leichtathletik-WM entspricht.
Mit grossem Erstaunen musste ich feststellen, dass sich das Publikum dieses toxische Entertainment-Gemisch nur allzu gerne einflössen liess. Das irritierte mich. Während Wellen der allgemeinen Euphorie durch das Zelt rauschten, begann ich an meiner emotionalen Zugänglichkeit zu zweifeln.
Ist es normal, dass es mich relativ kaltlässt, wenn Männer auf Motorrädern über die Manege springen, während die restlichen Zuschauer*innen aus ihren Sitzen gerissen werden, als hätten sie gerade den Höhepunkt ihrer bisherigen Existenz erlebt? Hat mich das Leben zu sehr abgestumpft, wenn eine akrobatische Liebesgeschichte, deren ästhetischer Anspruch an ein Albumcover einer Kuschelrock-CD erinnert, nicht vermag, mein Herz zu berühren? Bin ich überhaupt noch Mensch, wenn ich es nicht als lebensverändernde Erfahrung wahrnehme, wenn ein Pferd einigermassen im Takt zum Pirates-of-the-Caribbean-Soundtrack durch die Manege trabt?
Rettungsversuch für ein sabberndes Pferd
Kurz nach der Pause bemerkte ich jedoch, dass ich nicht gänzlich gefühlstot sein kann. Der Westschweizer Schnulzen-Troubadour Bastian Baker kam auf einem schwarzen Ross in die Manege geritten. Nun bin ich zwar kein führender Experte der Veterinärmedizin, doch das Pferd machte auf mich einen stark defekten Eindruck. Aus seinem Mund strömten permanent gigantische Speichelmengen. Stark sabbernd irrte es mit einem singenden Bastian Baker auf dem Rücken durch die Manege und schien vom Verlauf seines Arbeitstages stark befremdet zu sein.
Aus Sorge um das sabbernde Tier kämpfte ich mich auf dem Handybildschirm durch diverse Pferdeforen, um zu erfahren, ob dem armen Gaul ein baldiges Ableben bevorsteht. Meine Recherche im Dienste der Tierwelt wurde jedoch durch die Frau hinter mir erschwert. Bastian Baker ein sabberndes Pferd totreiten zu sehen, hielt sie anscheinend für den richtigen Zeitpunkt, um ihm in maximaler Lautstärke anzügliche Avancen entgegenzubrüllen. Unglücklicherweise führten diese direkt an meinem linken Ohr vorbei und liessen ein unangenehmes Gefühl der Taubheit zurück.
Die Lage spitzte sich zu. Die Manege füllte sich langsam mit Pferdesabber, die Frau hinter mir feuerte schmuddelige Annäherungsversuche in Dauerschleife ab und ich suchte, nun mit leichter Hörbehinderung, auf reitsportforum.de nach Anhaltspunkten zu den Lebenserwartungen stark sabbernder Pferde mit Bastian Baker auf dem Rücken. Zu meiner Erleichterung beendete dieser kurz darauf seine Darbietung. Das sabbernde Pferd wurde in lebendiger Form aus der Manege geführt. Die Frau hinter mir sank von Leidenschaft überwältigt in ihren Sitz zurück.
Trauma inbegriffen
Das Geschehen auf den Zuschauerrängen empfand ich allgemein als schwierig. Zirkuspublikum zeichnet sich vor allem durch den eisernen Willen aus, zu fragwürdiger Musik frenetisch in die Hände zu klatschen. Was als Zeichen ausgelassener Lebensfreude gedeutet werden könnte, würde ich eher als zwangsneurotisches Verhaltensmuster diagnostizieren. Ich bin nicht gänzlich gegen Musik, aber bei der Songauswahl der hauseigenen Zirkusband sollten die Hände eher schützend vor die Ohren gehalten werden, anstatt sie gegeneinander zu schlagen. Wenn Flammen aus dem Manegenboden schossen, gab es Hardrock, für die grossen Gefühle wurde die Panflöte ausgepackt.
Ob ich das Erlebte jemals komplett verarbeiten kann? Ich weiss es nicht. Als ich kurz vor 23 Uhr das Zelt verliess, beschlich mich das klamme Gefühl, dass ein kleiner Teil meiner Seele für alle Zeiten vom Zirkus entrissen wurde und für alle Ewigkeit mit Bastian Baker auf dem Rücken eines sterbenden Pferdes durch die Manege reiten muss. In der Dunkelheit des Bühnengrabens wird auf einer Panflöte sanft «Somewhere over the Rainbow» gespielt.