Verpönte Küche
Wer kein Hirn isst, dem sollte das Recht auf Fleischkonsum entzogen werden, meint Sylvan Müller. Er macht sich in der Zentralschweiz auf die Suche nach verpönter Küche. Teil 2: Die Zunge.
Sylvan Müller — 05/04/22, 09:59 AM
Sie gehört zwar zu den Innereien, ist dennoch relativ beliebt: die Zunge. (Foto: Sylvan Müller)
Es waren dunkle Zeiten. Im eisigen Norden Niflheims flossen elf Ströme aus dem Brunnen Hvergelmir. Je länger deren Reise, je weiter sich die Wasser von ihrer Quelle entfernten, umso kälter wurden sie. Reif entstand, später Eis und hüllte die nördliche Welt in frostiges Schweigen. Bald aber wurden heisse Funken aus der südlichen Feuerwelt Muspellsheim durch die Luft in die Kälte getragen, das Eis begann zu schmelzen und es offenbarte die ersten Tropfen Leben.
Hitze und Kälte erschufen den Riesen Ymir und aus dem Eis befreite sich die Urkuh Adhumbla. Vier fette Milchströme rannen aus ihren Zitzen in alle vier Himmelsrichtungen und waren dem Riesen Ymir erste Nahrung. Adhumbla leckte an den salzigen Eisblöcken und am Abend des ersten Tages kamen erste Haare aus dem Gletscher zum Vorschein, später eines Mannes Haupt und schliesslich ein ganzer Mann.
Buri hiess er, war stark und schön, Vater von Bör und Grossvater von Odin, Vili und Vé. Die ersten Götter und Schöpfer der Welt, wie wir sie kennen, waren geboren. Durch die Zunge einer Kuh. Sagt die Schöpfungsgeschichte der nordischen Mythologie.
Die Urkuh Adhumbla und die Urkräfte Feuer und Eis waren Stefan Wiesner, dem Hexer aus dem Entlebuch, Inspiration für sein aktuelles Menü. In Escholzmatt kocht er noch bis Mitte Mai alles von der Kuh: Ihr Fleisch, das Blut, ihre Milch, aber auch ihr Futter verarbeitet er in acht Gängen. Und natürlich auch die Zunge. Die Zunge, die mit ihrer unbändigen Kraft für den Beginn des menschlichen Lebens zuständig gewesen sein soll.
Kein Tier in Vakuum
Obwohl die Innerei zu den eher Akzeptierten ihrer Art zählt, stösst der Zungen-Gang auch bei Wiesners Gästen öfters auch auf Widerstand. Sprüchen wie, «ich esse nichts, was schon eine Kuh im Maul hatte», begegnet er aber entspannt. Er meint, den Grund der Ablehnung zu kennen: Das Tier ist klar erkennbar. Die Kuh, die uns die durch den Zaun die Hand geleckt hat, rau und Nass. Die lange Zunge die mit lautem Geräusch das Gras in grossen Büscheln von der Wiese reisst.
Stefan Wiesner konstatiert, dass Fleischesser den Bezug zum Tier lieber nicht herstellen möchten, oder ihn bereits verloren haben. Fleisch dürfe nicht mehr aussehen wie Tier, nicht mehr schmecken wie Tier. Schaffleisch beispielsweise, komme nicht mehr auf den Teller oder in die Auslage des Metzgers. Zu viel Fett, zu viel Schaf. Sauber parierte Lammkoteletten aus Australien seien gewünscht. Das Tier werde im Vakuum versteckt, soweit unkenntlich gemacht, dass es nicht mehr ans Tier erinnern möge. Oder gar an den eigenen Körper. Wie bei der Zunge, die da fett auf der Küchenablage liegt und sagt: Ich bin eine Zunge. Und Deine, lieber Mensch, sieht genauso aus. Also lieber Entrecôte statt Zunge.
Stefan Wiesner, der Hexer aus dem Entlebuch. (Foto: Sylvan Müller)
Auf die Frage, ob das auf dem Land, im Entlebuch wo er sein Lokal betreibe, nicht noch etwas anders sei, winkt er desillusioniert ab. Nein, er habe im Gegenteil das Gefühl, dass sich gerade die Landbevölkerung in ihrem Essverhalten noch stärker vom Tier entfernt habe wie die Städter. Cordon Bleu, Steak und Kroketten. Die Natur gebändigt und in Form gebracht, zivilisiert.
Kochen wie ein Heldenepos
Da Stefan Wiesner keine Lust auf Provokation verspürt, wenn er ein Menü kreiert, und trotzdem alle Teile des Tieres verwerten will, ist er schon länger dazu übergegangen, eine poetische Form des Versteckspiels zu entwickeln. Jedes Gericht wird verpackt in eine lustvoll erzählte Geschichte, Alchemie und Mythologie verwandeln profane Erzeugnisse in kleine Kunstwerke und sollen dem Gast neue Welten eröffnen: Die Zunge der Urkuh Adhumbla lässt Wiesner in ihrer Milch, die den Riesen Ymir nährte, langsam gar ziehen. Die durch die die heissen Funken aus der südlichen Feuerwelt Muspellsheim erhitzten Milchströme Adhumblas serviert er als karamellisierte Kondensmilch aus der Tube zur Zunge, die eisige Milch aus dem kalten Norden als Granité. Und er gibt das Salz dazu, vom salzigen Eisblock, aus dem Adhumbla mit ihrer kräftigen Zunge den Stammvater der Götter leckte.
In Kombination mit dem Apfelessig, in der die Zunge mariniert wird, erinnert das Gericht an die klassische Zubereitung mit Kapern, und das langsame Garen in der Milch bringt die feine Textur des Muskels wunderbar zur Geltung. Unglaublich zart und mild im Geschmack, ein grossartiges Gericht. Zu kompliziert? Die Schöpfung der Menschheit war ja auch keine einfache Sache. Trotzdem: ab in die Küche - Rezept siehe unten - ein Festmahl für vier Personen.
Sollte das mitgeniessende Umfeld einem mythischen Zungen-Gelage skeptisch gegenüberstehen: Selber essen. Oder aber Aufklärungsarbeit leisten. Dazu muss man auch kein Hexer aus dem Entlebuch sein, es geht auch weltlicher. Ein Vorschlag von Kulinarik-Journalist Bert Gamerschlag: «Auf den Einwurf ‘Iiii, hat das die Kuh im Mund gehabt?’ erwidere ich: ‘Sie hat es ähnlich im Mund gehabt, wie das Schwein deine Gummibärchen in der Schwarte hatte, ja’».
(Foto: Sylvan Müller)
-Zunge:
1 Rinderzunge (ca 1.2 – 1.5 Kilo)
2 Liter Milch
2 Liter Wasser
-Karamellisierte Milch:
1 Tube Kondensmilch
-Milchgranité
5 dl Milch
1 dl Wasser
-Marinade
1 dl Wasser
3 dl Apfelessig
5 g (1 TL) Salz
Fleur de Sel
Die Zunge in einen Topf mit ungesalzenem Wasser geben, das Wasser aufkochen lassen und die Zunge 5 Minuten blanchieren. Die Zunge herausnehmen und unter kaltem Wasser abspülen
Wasser, Vollmilch und die Zunge in einen Topf geben, erhitzen und etwa 3.5 Stunden leicht simmern lassen. Die Zunge ist gar, wenn sich eine feine Fleischgabel leicht hineinstoßen und wieder herausziehen lässt.
Die Zunge in Eiswasser abschrecken und schälen. Dazu die Haut an der Zungenspitze lösen und nach hinten wegziehen. Danach die Zunge wieder in den Sud geben und darin erkalten lassen.
Die Kondensmilch-Tube für zwei Stunden in einen Topf mit leicht köchelndem Wasser geben, die Milch wird so karamellisiert. Mit einem Gitter am Topfboden verhindern, dass die Tube in Kontakt mit dem heissen Topfboden kommt.
Milch aufschäumen und in einer Schüssel in den Tiefkühler geben. Dabei in regelmässigen Abständen gut durchrühren, damit feine Kristalle entstehen.
Für die Marinade Apfelessig, Wasser und Salz erhitzen bis das Salz aufgelöst ist, etwas abkühlen lassen, die Zunge dünn aufschneiden und in die lauwarme Marinade für etwa 10 Minuten einlegen.
Die marinierte Zunge mit etwas Fleur de Sel und karamellisierter Kondensmilch aus der Tube anrichten, mit einem stabilen Löffel etwas Milchgranite vom Blech schaben und dazugeben. Servieren.
Rohe Zunge bekommt man auf Bestellung in den meisten Metzgereien. Eine gute Adresse: Metzgerei Matter, Kriens, metzgerei-matter.ch 041 322 00 30 Sternekoch Stefan Wiesner gehört zu den wichtigsten Naturköchen. Seine Kreationen serviert er seit über 30 Jahren im Entlebuch. Im Herbst verlässt er das Rössli in Escholzmatt und zaubert neu ab 2023 im Wallfahrtsort Heiligkreuz in der eigenen Natur-Akademie mit Hotel und Restaurant. stefanwiesner.ch, 041 486 12 41 |
Sylvan Müller fotografiert, schreibt, macht Wein, backt Brot, importiert Austern und teilt seine Leidenschaft für grossartige Lebensmittel in der Jazzkantine Luzern. Dieser Artikel wurde im Rahmen des «Innereien»-Kulturprojektes der Albert Koechlin Stiftung produziert. Hier erfährst du mehr darüber. Und hier geht es zur offiziellen Webseite: www.innereien.ch.