Prime Time
«Our Friend» riecht nach Fliessbandware, entpuppt sich aber als meisterhaft gemachter Tearjerker. Selten so befreit geweint.
Heinrich Weingartner — 05/21/21, 10:18 AM
Dane (Jason Segel) ist mit der Familie Teague eng befreundet. Und hilft in den schlechtesten aller Zeiten.
Hollywood leidet am Netflix- und Corona-Kater. Richtig so: Wer jahrzehntelang im Geld schwimmt und sich damit die hausgemachten Probleme schön trinken kann, muss im Nachgang auch zurückstecken. Das hat sogar etwas Positives: Mit der rasant wachsenden Serienkonkurrenz im Nacken werden minimalistische Perlen wie «Our Friend» möglich. Die Dokumentarfilmerin Gabriela Cowperthwaite setzt in ihrem zweiten Spielfilm auf Menschen, die reden, lachen, weinen und noch mehr reden. Das klingt nach einer banalen Strategie, sie entfaltet aber dank einer zeitlich umher springenden Erzählweise volle Wirkungskraft.
Die Story basiert auf dem Artikel «The Friend» von Matthew Teague, der 2015 im Esquire erschien. Teague erzählt darin, wie seine Frau Nicole an tödlichem Krebs erkrankt. Und sein bester Freund Dane zu ihnen zieht, damit er die Familie mit zwei Töchtern unterstützen kann. Einige Wochen wären geplant gewesen. Der Freund bleibt jedoch monatelang – bis Nicole stirbt. Teague schildert im Artikel unverblümt medizinische und unappetitliche Details des Krebsverlaufs, die im Film nicht vorkommen. Beschönigung à la Hollywood? Nein: Das Zeigen solcher Momente wäre in diesem Fall handwerklich in etwa gleich sinnvoll wie in einer Rom-Com pornographische Szenen einzubauen.
«Our Friend» findet genau die richtige Balance aus Nähe und Distanz, verwebt gekonnt intensive Passagen mit leichtfüssigen Momenten und bietet eine emotionale Achterbahnfahrt, die erfrischend unverbraucht daher kommt. Beinahe assoziativ wird dabei in der Chronologie der tatsächlichen Ereignisse umher gesprungen, was einen traumhaften Charakter zur Folge hat und das Publikum in einen tranceartigen Sog zieht. Der kriminell unterschätzte Jason Segel (Marshall in «How I Met Your Mother») brilliert dabei als knuddeliger Dane, der sich scheinbar grund- und bedingungslos aufopfert.
In den wenigen langatmigen Momenten bleibt Zeit, um die Intensität des Rests zu verdauen.
Immer wieder wechselt Cowperthwaite in die Verlorenheit der Vogelperspektive, um die Staubkornbedeutung von individuellen Schicksalen aufzuzeigen – nur um im nächsten Moment mittels verwackelter Handkamera die unentrinnbare menschliche Nähe in Erinnerung zu rufen. Sie zieht Register des Dokumentarfilms und transformiert diese meisterhaft ins Spielfilmgenre. In den wenigen langatmigen und überflüssigen Momenten bleibt Raum und Zeit, um die Intensität des Rests zu verdauen. «Our Friend» ist ein Film mit femininem Blick, was auch immer das heute bedeuten mag. Auf jeden Fall setzt er einen erfrischenden Gegenpol zum US-amerikanischen Schwanzvergleichskino der letzten 100 Jahre. Und das sagt ein genuiner Schwanzvergleichsfilmliebhaber.
«Our Friend», ab jetzt im Kino Bourbaki in Luzern.
Regie: Gabriela Cowperthwaite, mit: Jason Segel, Dakota Johnson, Casey Affleck.
Prime Time ist das neue Kultz-Format für Film und Fernsehen. Jeden Freitag schreiben Sarah Stutte und Heinrich Weingartner über die neuesten Blockbuster, Arthouse-Streifen und gehypten Serien. |