Prime Time
Drei Schauspielerinnen gehen ins Internet. Verkleidet als zwölfjährige Mädchen. Innert zehn Tagen melden sich 2458 Männer. «Caught in the Net» ist eine düstere Überraschung aus Tschechien.
Heinrich Weingartner — 06/04/21, 09:17 AM
Humoristische Momente lockern einen ansonsten sehr düsteren Film. Regisseur Vít Klusák liest hier mit den drei Schauspielerinnen die Kontaktanfragen von zig Männern.
Zehn Tage, drei Schauspielerinnen, ein Studio: Das tschechische Regie-Duo Barbora Chalupová und Vít Klusák baut in einer Fabrikhalle drei Fake-Kinderzimmer nach, in denen jeweils eine Schauspielerin sitzt, die aussieht wie zwölf, aber bereits volljährig ist. Als Requisite dient alter Dachbodenkram der Schauspielerinnen. Mit alten Fotos, einem Puppenhaus oder kunterbunten Kinderkleidern wird eine unheimlich echte Kinderwelt heraufbeschworen, die «Sexual Predators» anlocken und täuschen soll.
Und wie sie das tut: Innert einiger Stunden melden sich Dutzende. Der Skype-Klingelton ertönt so oft, dass man ihn nach dem Film nicht mehr hören mag. Die Anrufer sind Männer, die manchmal zwanzig, manchmal dreissig, bald fünzig Jahre älter sind als zwölfjährige Mädchen. Sie halten ihre Penisse in die Kamera. Und lächeln, lügen, grunzen, masturbieren.
Nur drei bis fünf Prozent dieser Männer seien pädophil, erklärt eine Sexologin, die beim Dreh anwesend ist. Eine Mehrzahl zieht den Kick aus der offensichtlichen Machtposition, aus Langeweile oder weil sie alles andere schon gesehen haben. Es eint sie allerdings der abhanden gekommene moralische Kompass. «Es stört dich nicht, dass ich 12 bin? – Nein, ich war ja auch einmal 12.»
«Caught in the Net» rüttelt durch und überrascht mit dem Spannungsbogen eines Hochglanz-Krimis. Immer wieder werden bedrückende Höhepunkte gesetzt: Beispielsweise als die Maskenbildnerin des Filmteams einen der anrufenden Männer erkennt. Er arbeitet in einem Verein, der Anlässe, Camps und Ausflüge organisiert. Für Kinder.
«Caught in the Net» rüttelt durch und überrascht mit dem Spannungsbogen eines Hochglanz-Krimis.
Der tschechische Dokumentarfilm besticht durch eine hervorragende Machart: Es ist eine ungewöhnliche Mischform zwischen beobachtender Zurückhaltung und aktiver Einmischung. So werden die Skype-Gespräche beinahe unkommentiert abgespielt, in anderen Momenten herrscht am Set reger Austausch. Durch diesen Bruch mit klassischen Formen entsteht ein Spannungsfeld, das fasziniert.
Im Film wird der moralische Zeigefinger gehoben, ohne mit ihm in eine bestimmte Richtung zu zeigen. Diese Überraschung aus Tschechien ist relevantes Gesellschaftskino. Leider haben Filme von solcher Qualität in der schweizerischen Filmbranche Seltenheitswert. Hier verkriechen sich Filmschaffende lieber im Milieukitsch von Individualschicksalen. Dabei könnte mit schonungslosen Filmen wie diesem beim Publikum durchaus gepunktet werden. In Deutschland schlug «Caught in the Net» hohe Wellen. In Tschechien ist es schon jetzt der meistgesehene Dokumentarfilm aller Zeiten.
«Caught in the Net – Gefangen im Netz», ab jetzt im Kino Bourbaki in Luzern.
Regie: Barbora Chalupová, Vít Klusák, mit: Tereza Těžká, Anežka Pithartová, Sabina Dlouhá
Prime Time ist das Kultz-Format für Film und Fernsehen. Jeden Freitag schreiben Sarah Stutte und Heinrich Weingartner über die neuesten Blockbuster, Arthouse-Streifen und gehypten Serien. |