Luzern fluten
Die Fluten stehen vor den Toren Luzerns. Die Stadt scheint dem Untergang geweiht. Bei unserem Autor löst das voyeuristische Gefühlsregungen aus. Ein Spaziergang durch das Katastrophengebiet.
Martin Erdmann — 07/16/21, 02:22 PM
Schöne Aussichten: Luzern auf den Spuren Venedigs.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich liefere verlorene Brieftaschen beim Fundbüro ab, unterstütze es, wenn gestrandete Wale zurück in ihren natürlichen Lebensraum gestossen werden und war schon immer der Meinung, dass Völkermorde wenn möglich unterlassen werden sollten. Kurz: Ich bin ein Mensch mit durchaus edlen Wesenszügen.
Doch in der dunkelsten Ecke meines Seins schlummert eine diabolische Lust auf Zerstörung, die durch nichts dermassen wachgerüttelt wird als durch ein anständiges Hochwasser. Einst pflegte ich hohe humanitäre Standards. Jetzt treibt mich die Gier an die Ufer des Vierwaldstättersees, um die Stadt langsam versinken zu sehen. Ich lade Sie herzlich dazu ein, mich auf diesem amoralischen Spaziergang zu begleiten.
Schöner als jeder Regenbogen: Die überflutete Seepromenade.
Es ist ein majestätischer Anblick. An der Seepromenade hat der Vierwaldstättersee sein Hoheitsgebiet bereits erweitert. Wo für gewöhnlich Touristenscharen zu flanieren pflegen, schwappen jetzt beachtliche Wassermengen auf den Gehweg.
Ergriffen von diesem Anblick, spüre ich in mir plötzlich eine gewisse Traurigkeit aufsteigen. Wieso neigt die Gesellschaft dazu, die Schönheit der Natur bloss in einem sehr beschränkten Spektrum zu geniessen? Unsere ästhetischen Ansprüche an Mutter Erde sind oft sehr banaler Art. Klatscht die Natur einmal ein Abendrot an den Himmel, wird dieses durch jede verfügbare Instagram-Story gezerrt, als wäre Van Gogh aus der Totenruhe zurückgekehrt, um den Horizont zu bepinseln.
Doch übt sich die Natur einmal in etwas abstrakteren Darstellungsformen, wird sie grossmehrheitlich missverstanden. Dabei ist das Hochwasser doch quasi der Sonnenuntergang auf Bali für Leute mit einer etwas düsteren ästhetischen Empfindsamkeit.
Rialtobrücke für Daheimgebliebene: Konstruktion in der Bahnhofstrasse.
Folgen Sie mir nun bitte in die Innenstadt. Sandsäcke, Absperrgitter, Warnschilder. Spüren Sie diese aufregende Ungewissheit? Sagen Sie mir nicht, dass Sie dieses knisternde Gefühl apokalyptischer Spannung kalt lässt. Vielleicht gehen wir jedoch grundsätzlich viel zu negativ in das Hochwasser. Wurde uns während Corona nicht dauernd eingeredet, das Ungemach als Chance zu sehen?
Probieren wir doch für einmal das Hochwasser als unseren Freund zu betrachten. Gerade Luzern als Tourismusstadt kann zurzeit einen guten Buddy gebrauchen. Schliesslich herrschte hier während der Pandemie stoische Ebbe. Nun könnte es also die Flut richten. Denn mit der drohenden Überschwemmung kommt in der Stadt plötzlich Ferienfeeling auf.
Der Plastikgeruch der orangen Beaver-Schläuche erinnert an aufgeblasene Luftmatratzen an den Stränden Liguriens. Die eisernen Brücken in der Bahnhofstrasse verleihen Luzern einen Hauch eines postindustriellen Venedigs. Und wenn wir von Venedig etwas lernen können, dann ist es, aus dem eigenen Untergang ein touristisches Geschäftsmodell zu entwickeln.
Der Zeitpunkt ist günstig. Schliesslich will Venedig nun endgültig Kreuzfahrtschiffe aus ihren Häfen verbannen. Beste Gelegenheit, um diese nach Luzern zu holen. Eine Stadt, die darüber nachdenkt, den Musegghügel auszuhöhlen, um darin ein Parkhaus zu bauen, hat sicherlich auch nichts dagegen, künftig riesige Kreuzfahrtschiffe durch die Hertensteinstrasse zu schleusen. Hochwasser als Wirtschaftsturbo.
Geschäftsmodell mit Zukunft: Taxi Boat.
An der Reuss in Richtung Emmenbrücke neigt sich unser Spaziergang dem Ende entgegen. Da Sie mir bis hierhin gefolgt sind, haben auch Sie sich nun des katastrophalen Voyeurismus schuldig gemacht. Wie Sie das nun mit Ihrem Gewissen vereinbaren wollen, ist Ihnen überlassen. Denn hier trennen sich nun unsere Wege. Aber wir werden uns wiedersehen. Spätestens dann, wenn Vierwaldstättersee und Reuss das nächste Mal kritische Grenzwerte überschritten haben.
Kann auch als Postkarte ausgedruckt werden: Szenerie entlang der Reuss.