Stadtlauf-Selbstversuch
Unser Autor hat sich stets über den Luzerner Stadtlauf genervt. Dieses Jahr hat er daran teilgenommen. Eine Gesellschaftsstudie über 4.65 Kilometer.
Martin Erdmann — 09/13/21, 03:16 PM
21 Minuten schlechte Laune: Martin Erdmann am Luzerner Stadtlauf.
Geht es um Sonntagvormittage, vertrete ich eine klare Position. Sie sollten keinesfalls ausserhalb eines 5-Meter-Radius vom eigenen Bett stattfinden. Da gehe ich mit dem Alten Testament einig: Am siebten Tag sollst du ruhen. Deshalb sehe selbst ich als Ungläubiger den diesjährigen Luzerner Stadtlauf als Veranstaltung mit blasphemischen Zügen.
Am Sonntagmorgen ein grossangelegtes Wettrennen durch Luzern zu veranstalten, kann durchaus als perverser Auswuchs von gesellschaftlichem Leistungsdruck verstanden werden. Und dennoch habe ich mich dafür angemeldet. Schliesslich ist der moderne Mensch ein tolerantes Geschöpf, der mit grosser Anstrengung auch die Existenz von sonntäglichen Sportevents mit Volksfestcharakter zu akzeptieren lernen kann. Darum betrachte ich meine Teilnahme am 43. Luzerner Stadtlauf als meinen Jahresbeitrag an die Konsensgesellschaft.
So lungerte ich kurz vor 10 Uhr im Startbereich an der Bahnhofstrasse herum und fühlte mich wahnsinnig deplatziert. In der Läuferszene scheint es ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, dass für alles, was über normales Gehtempo hinausgeht, ein enges Oberteil in grellen Neonfarben getragen werden muss. So fügte sich meine Gegnerschaft zu einem netzhautgefährdenden Gesamtbild zusammen. Ich hingegen erweckte bei meiner Konkurrenz wohl eher den Eindruck, ich sei auf dem Weg zur Tankstelle, um mir Chips zu holen, versehentlich ins Teilnehmerfeld geraten.
Müssen wir als Gesellschaft den Luzerner Stadtlauf tatsächlich aushalten können?
Diese fehlgeschlagene Integration in das Läufermilieu schmälerte meine Motivation, mich zu bewegen. Während um mich herum komplizierte Dehnübungen ausgeführt wurden, verzichtete ich darauf, meinen Körper auf Betriebstemperatur zu bringen. Die Restwärme, die ich aus dem heimischen Bett mitgebracht habe, in dem ich vor 10 Minuten noch gelegen hatte, als die Welt noch in Ordnung war, reichte mir völlig. So setzte ich meine motorischen Möglichkeiten kurz vor Start ausschliesslich dafür ein, lustlos durch Twitter zu scrollen.
Ich stand also an der Startlinie und dachte über die Grenzen der Toleranz nach. Müssen wir als Gesellschaft den Luzerner Stadtlauf tatsächlich aushalten können? Wird nicht zumindest mit dem nachmittäglichen Plauschrennen eine Grenze überschritten, welche die Öffentlichkeit so nicht hinnehmen dürfte? Ist es mit der unantastbaren Würde des Menschen vereinbar, wenn erwachsene Menschen als Einhörner oder Playboy-Häschen durch die Stadt rennen?
Kaum bin ich ins Rennen gestartet, wurden diese gewichtigen Fragen von einem anderen Problem verdrängt. Wegen mangelhafter Vorbereitung war mir der Streckenverlauf gänzlich unbekannt. In meiner Not folgte ich einfach dem Laufteam vom Hotel Montana. Dessen Leibchen leuchteten dermassen gelb, dass es damit problemlos auch den Verkehr an einer grossstädtischen Kreuzung hätten regeln können. Dieses strategische Manöver stellte mich kurz darauf vor ein Dilemma. Das Team Montana war mir zu langsam. Ich musste mich entscheiden: Passe ich mein Tempo an und lasse mich von den Hotelmitarbeitenden sicher ins Ziel führen oder lasse ich meine treuen Wegweiser hinter mir, im Risiko, für immer von der Route abzukommen?
Ich habe noch nie gut darauf reagiert, wenn mir Dinge im Imperativ zugerufen werden.
War meine Stadtlauf-Teilnahme einst als Geste der Toleranz und des gesellschaftlichen Zusammenhalts gedacht, erwachte in mir plötzlich rücksichtsloses Konkurrenzdenken. Von Ambitionen getrieben, überholte ich das Team Montana. Kurz darauf wurde ich jedoch vom Karma eingeholt. Zwar konnte ich mein Tempo erhöhen, hatte aber nicht mit der massiven Mückenplage entlang der Reuss gerechnet. Hätte ich mich nicht meiner Gewinnsucht gefügt, wäre das Team Montana quasi als menschlicher Schutzschild vor mir hermarschiert. Nun schossen mir die Insekten im Sekundentakt in die Luftröhre oder klebten an meinen Augäpfeln.
Halb erblindet und stark röchelnd erreichte ich die Altstadt. Hier erwartete mich bereits das nächste Übel: Zuschauer*innen am Streckenrand. Ich habe noch nie gut darauf reagiert, wenn mir Dinge im Imperativ zugerufen werden. So haben auch gutgemeinte «Hopp! Hopp!»-Rufe meine antiautoritäre Grundhaltung dermassen getriggert, dass ich kurz davor war, mein Engagement für die Konsensgesellschaft abzubrechen.
Zu schlecht für den Gesamtsieg: Erdmanns mittelmässiges Stadtlaufresultat.
Glücklicherweise befand ich mich bereits auf der Zielgerade, was meine Laune etwas ansteigen liess. Kaum hatte ich die Ziellinie übertreten, bekam ich mein Resultat per SMS zugeschickt. Mit leichter Enttäuschung musste ich vernehmen, dass ich den Stadtlauf nicht gewonnen habe. In meiner Altersklasse landete ich bloss im Mittelfeld: Platz 106 von 209. Insgesamt hat der Luzerner Stadtlauf deshalb meine Position gestärkt, dass Sonntagvormittage stets in Bettnähe verbracht werden sollten.