Prime Time
Auch massgeschneiderter Netflix-Ramsch blüht manchmal auf: Die True-Crime-Doku «Bad Vegan» ist höchst unterhaltsam und reisst mit.
Heinrich Weingartner — 03/18/22, 08:57 AM
Minutiös und total ehrlich erzählt Sarma Melngailis, wie sie abgezockt wurde. (Foto: Netflix.)
Die Geschichte um Gastronomin Sarma Melngailis liesse sich eigentlich in einer einzigen Folge à 30 Minuten erzählen. Aber Regisseur Chris Smith seziert jede noch so kleine Anekdote dieses mit Glamour geschwängerten Betrugsfalls und vergoldet alle Details zu ultrawichtigen Puzzlestücken. Der Vierteiler pumpt eine Randnotiz des modernen Promiklatsch auf und verwandelt es in die momentan wichtigste Geschichte aller Zeiten. Und genau das macht so Spass an «Bad Vegan»: Man klebt förmlich am Bildschirm.
Sarma Melngailis führt ein New Yorker Restaurant, das «Pure Food and Wine»: Hip, vegane Karte, Owen Wilson holt sich barfuss seinen täglichen Smoothie. Aber nicht alles läuft rund: Bald verstreitet sie sich mit ihrem langjährigen Geschäfts- und Privatpartner, einem Gourmetkoch. Im Herzschmerz stösst Sarma auf den mysteriösen «Shane Fox», der 50'000 Follower*innen hat. Sarma trifft «Shane». Und wird von Anthony Strangis, wie er mit richtigem Namen heisst, gnadenlos abgezockt.
Chris Smith erzählt reale Geschichten mit der Attitüde eines Spielfilms.
Anthony verspricht Sarma, dass sie und ihr Hund Leon unsterblich werden, wenn sie seine Tests besteht. Diese bestehen meistens darin, ihm eine grosse Summe Geld zu überweisen. Derweil verzockt er Dollar um Dollar. Die Mitarbeitenden des Restaurants werden immer misstrauischer, bis Sarma ihnen irgendwann keinen Lohn mehr überweisen kann. Sarma und Anthony flüchten. Die Polizei spürt sie in einem Hotel in Tennessee auf, weil sie bei einer bekannten Fast-Food-Kette Pizza und Chicken Wings bestellen.
Der Regisseur Chris Smith ist kein Unbekannter: Er hat in den 90ern die punkigen Dokus «American Movie» oder «The Yes Men» gedreht und mit «Fyre», «Jim & Andy» sowie «Tiger King» Netflix-Hits gelandet. Das Stilmerkmal seiner Filme: Smith erzählt völlig absurde und trotzdem reale Geschichten mit der Attitüde eines Spielfilms. Dazu benutzt er unter anderem bildgewaltige Nachstellungen, ästhetisierte Telefonmitschnitte und ein unter die Haut kriechendes Sounddesign.
Besonders die konstant brüchige Stimme der Hauptfigur Sarma Melngailis bleibt im Kopf. Und wie ehrlich, ausführlich und mit klarem Blick sie ihre und Anthonys Abwärtsspirale aus Lügen, falschen Versprechen und Manipulationen schildert. Im Magen hingegen bleibt, wie sehr einen die Psychopathien dieses spielsüchtigen Hochstaplers faszinieren, der Victim Blaming und Gas Lighting meisterhaft beherrscht.
Prime Time ist das Kultz-Format für Kino, Fernsehen und Streaming. Jeden zweiten Freitag schreiben Sarah Stutte und Heinrich Weingartner über die neuesten Blockbuster, Arthouse-Streifen und gehypten Serien. |